Mathias Berg: Die Kriminalistinnen. Der Tod des Blumenmädchens, Kriminalroman

Mathias Berg: Die Kriminalistinnen. Der Tod des Blumenmädchens, Kriminalroman, Köln 2023, Emons Verlag, ISBN 978-3-7408-1684-1, Softcover, 336 Seiten, Format: 13,8 x 2,7 x 20,2 cm, Buch: EUR 14,00 (D), EUR 14,40 (A), Kindle: EUR 10,99.

Abb.: (c) Emons Verlag

„Der Türsteher öffnete die letzte Tür am Ende des Gangs. Sie war von innen gepolstert, zur Schalldämmung, das fiel mir sofort auf. Ich trat ein, und der Hüne folgte mir. Das war der Moment, in dem ich mir dachte, vielleicht war es doch keine so gute Idee hier aufzukreuzen.“ 

(Seite 273)

Neu in den Sixties: Kriminalbeamtinnen

Der Verlag nennt das Buch einen „zeitgeschichtlichen Kriminalroman“. Fangen wir bei dem Teil an, der wahr ist: 1969 war wirklich ein Reporter des Magazin STERN bei der Düsseldorfer Kriminalpolizei und schrieb einen Artikel über die ersten Frauen, die dort zu Kriminalbeamtinnen ausgebildet wurden. Das hatte es in der BRD bis dahin noch nicht gegeben. Klar, bei der Polizei gab’s Sekretärinnen oder Mitarbeiterinnen in der Opferbetreuung. Aber die dienstliche Gleichstellung mit den männlichen Ermittlern war ein Novum, ja eine Revolution – und diese Entwicklung hat bei weitem nicht jedem geschmeckt. Die meisten männlichen Kollegen hätten die jungen Quereinsteigerinnen sicher am liebsten krachend scheitern gesehen.

Warum hat man diesen Karriereweg überhaupt für Frauen geöffnet, wenn das gar niemand wollte? Sicher nicht, um die Emanzipation zu fördern, sondern weil sie bei der Kripo damals unter akutem Personalmangel litten. Bevor sie gar niemanden hatten, der die Arbeit macht, haben sie halt notgedrungen Frauen genommen.

Eine Quereinsteigerin berichtet

Düsseldorf, 1969: Die fiktive Ich-Erzählerin, Lucia Specht, 22, ausgebildete Sekretärin, nutzt diese Chance, um aus dem „Pott“ rauszukommen und etwas aus ihrem Leben zu machen, auch wenn das ihrem Vater und ihrem Bruder gar nicht passt. Wenn sie zur Kripo nach Düsseldorf geht, wer führt ihnen dann den Haushalt? Auf sowas kann und will Lucia aber keine Rücksicht nehmen. Vor zehn Jahren schon hat sie sich geschworen, eines Tages Polizistin zu werden und den Menschen zur Strecke zu bringen, der den Tod ihrer Mutter zu verantworten hat.

Die Entstehung des oben genannten STERN-Artikels schildert Lucia als eine extrem peinliche Angelegenheit – und ich würde ihn wirklich gerne mal sehen und lesen. 

Heute nennt man’s „Bossing“

Was Lucia ebenfalls erzählt: wie herablassend die Herren Kollegen auf sie und ihre fünf Mitstreiterinnen reagieren. Vor allem ihr Vorgesetzter, Jürgen Potthoff, der Leiter der Mordkommission, will keine Frauen bei der Kripo haben und tut alles, damit die ihm zugeteilte Lucia schnellstmöglich wieder rausfliegt. Er lässt sie auflaufen, wo’s nur geht und weist sogar einen Mitarbeiter an, einen sehr negativen Bericht über sie zu verfassen. Heute würde man dieses Vorgehen „Bossing“ nennen. Die fünf anderen angehenden Kriminalistinnen sind in verschiedenen Abteilungen untergebracht, aber es dürfte ihnen da nicht viel anders ergehen als Lucia bei der Mordkommission.

Sollten die Herren allerdings geglaubt haben, dass sie Damen schnell aufgeben, so haben sie sich getäuscht. Die Anwärterinnen sind keine naiven Lehrmädchen, sondern gestandene Frauen, die sich bereits in anderen Berufen bewährt haben. Sie sind überaus motiviert – und sie halten zusammen. Dieser informelle Austausch über Abteilungen hinweg, z.B. beim gemeinsamen Mittagessen, ist nicht zu unterschätzen.

Tod einer Studentin: Unfall oder Mord?

Das zeigt sich deutlich, als Lucia zu einem Leichenfund nach einem Wohnungsbrand gerufen wird.  Die Tote ist Magdalena „Lena“ Malberg, Studentin der Philosophie. Für Potthoff ist der Fall von vornherein keiner: Ach, die junge Frau ist halt bei dem Brand am Rauchgas erstickt. Vielleicht war’s ja auch Suizid. Bei den Hippies weißte ja nie … Als sich Lucias Verdacht bestätigt, dass Lena Malberg erwürgt worden ist und schon tot war, bevor der Brand eingesetzt hat, ist Potthoff schnell dabei, die Tat einem Einbrecher in die Schuhe zu schieben, der gerade in der Gegend aktiv ist. Vielleicht hat sie ihn erwischt und er hat sie umgebracht, weil sie ihn hätte identifizieren können, und dann hat er seine Spuren verwischt, indem er den Brand legte.

Das passt aber nicht zur Auffindesituation der Toten. Es wurde auch nichts gestohlen. Was kein großes Wunder ist, denn dass das eine Studentenbude ist, in der es nichts zu holen gibt, hätte ein Profi-Einbrecher schon zwischen der Tür gesehen. Lucia ist gründlich, macht Skizzen und Notizen – und merkt bei einer späteren Tatortbegehung, dass jetzt etwas aus der versiegelten Wohnung verschwunden ist. Das kann also nur einer der Kollegen weggenommen haben. Wieso? Hätte dieser Gegenstand jemanden belastet? Jemanden von der Polizei? Oder jemanden, der einem Kollegen nahesteht? 

Lucia ermittelt heimlich weiter

Lucia denkt nicht daran, den Fall Lena Malberg ruhen zu lassen, obwohl ihr Chef das so anordnet. Sie ermittelt einfach inoffiziell mit Hilfe ausgewählter Kolleg:innen weiter. Und siehe da: Lena Malberg war kein verpeiltes Blumenmädchen und auch keine Unschuld vom Lande, sondern eine geschäftstüchtige junge Frau, die sehr genau wusste, was sie wollte. Die Spur führt in, sagen wir mal, interessante Kreise … Aber wir als Krimileser:innen wissen ja, wie gefährlich solche Alleingänge sind, vor allem für unerfahrene Berufsanfänger …

Das Buch ist der Auftakt zu einer Reihe. Deswegen wird in diesem Band auch viel Zeit und Raum darauf verwendet, die Hauptpersonen mit ihrem Privatleben und ihren Problemen vorzustellen. Da tritt der Kriminalfall ein wenig in den Hintergrund. Die Geschichte wird erst gegen Ende so richtig spannend. 

Sachlich-distanziert

Am Anfang liest sich das ein bisschen zäh, zumal Lucia die Ereignisse sehr sachlich-distanziert beschreibt. Bei einer Ich-Erzählerin erwarte ich, dass sie für ihr Thema wirklich brennt. Wenn sie nicht das starke Bedürfnis hat, ihre Geschichte an die Öffentlichkeit zu bringen, warum sollte sie es dann tun? Davon habe ich bei Lucia anfangs nicht viel gemerkt. Was sie erzählt, liest sich streckenweise wie ein Praktikumsbericht. Mit der Zeit habe ich mich an diesen Stil gewöhnt. Und nachdem sie festgestellt hat, dass am Tatort was fehlt, geht’s ja auch richtig rund.

Mode, Musik, Zeitgeschehen

Zeittypisches aus den Sixties wird immer wieder mit eingewoben, ohne dass es in Infodumping ausartet. So verfolgen die Kriminalistinnen zum Beispiel das Zeitgeschehen in der Zeitung. In ihren Gesprächen geht es auch mal um Politik, Musik, Mode und Autos, und eine der Kolleginnen ist eine sehr engagierte Feministin. Man vergisst also nie, in welcher Ära das spielt. Aber gab’s 1969 in Deutschland echt schon überall T-Shirts? So als Oberbekleidung? Der „Boomer“-Freundeskreis diskutiert noch und kramt in den Fotoalben 😊. Okay, das ist nur eine Kleinigkeit, die vielleicht zeigt, wie intensiv man diese Zeitreise miterlebt.

Es geht weiter …

Jetzt dürfen wir also gespannt sein, ob alle sechs Kriminalistinnen ihre Ausbildung fortsetzen und abschließen, ob Lucia wirklich auf eigene Faust den Kerl sucht, der ihre Mutter auf dem Gewissen hat und ob sie damit Erfolg hat. Ein bisschen würde mich auch interessieren, was Potthoffs Geschwätz sollte, es würde sich für ihn nicht mehr lohnen, zum Arzt zu gehen. So alt ist er doch gar nicht! Aber vielleicht war’s ja bloß ein Spruch. Und auch sonst sind, obwohl der Mord aufgeklärt zu sein scheint, ein paar Fragen offen, auf die ich gern noch eine Antwort hätte. Und wenn nicht mehr so viel Vorgeschichte zu erklären ist, ist die Erzählweise vielleicht auch nicht mehr so trocken.

Der Autor

Mathias Berg wurde 1971 in Stuttgart geboren. Lust auf das Lesen und Schreiben machte ihm seine Mutter, die Tochter eines Polizisten. Nach dem Studium der Soziologie in Bamberg und London, jobbte er als Radiomoderator und arbeitete als Werbetexter und Marketing-Redakteur. Mathias Berg lebt in Köln.

Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
www.boxmail.de

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