Simone Keil: Das Mädchen mit dem Porzellangesicht

Simone Keil: Das Mädchen mit dem Porzellangesicht, Stuttgart 2024, Klett-Cotta, ISBN  978-3-608-96635-0, Hardcover mit silberfarbener Prägung und Lesebändchen, 224 Seiten, Format: 13,9 x 2,1 x 21,6 cm, Buch: EUR 22,00, Kindle: EUR 17,99. Auch als Hörbuch lieferbar.

Abb.: (c) Klett-Cotta

„Wie wäre ihr Leben wohl verlaufen, wenn sie diese Maske nicht hätte tragen müssen? […] Das ist alles nur ihre Schuld. […] Alle Menschen, auch die mechanischen, haben gelitten – weil sie sie beschützen wollten. Weil sie sie liebten. Sie darf nicht zulassen, dass sie noch einmal von jemandem geliebt wird.“ 

(Seite 137/138)

London, Ende des 19. Jahrhunderts: Eigentlich kann man vom Puppenmachen nicht auskömmlich leben. Puppenmacher Kazuki Kobayashi und seine depressive Frau Yumiko sind finanziell trotzdem gut gestellt. Warum? Weil er mit Francis Fairweather einen Deal gemacht hat. Jedes Quartal bekommt Fairweather gratis eine Puppe, dafür mehrt sich der Wohlstand der Kobayashis.

Was immer Fairweather ist – ein Dämon oder ein Teufel, wenn auch nicht die hellste Flamme in der Hölle –: Seit „Rumpelstilzchen“ oder Goethes „Faust“ wissen wir alle, wie Deals mit solchen Kreaturen ablaufen: Irgendwann kommen sie zum Kassieren, und wehe, wenn man vorher das Kleingedruckte nicht richtig gelesen hat …!

Als Kobayashis ihre Tochter Miyo bekommen, steht prompt der dämonische Geschäftspartner auf der Matte und beansprucht das Kind. Dem Puppenmacher gelingt es, Fairweather hinzuhalten. Wie gesagt, der Hellste ist er nicht. Die Denkarbeit leistet seine Eule, Lady Strix Brouillard, für ihn. Und beim nächsten Besuch ist Töchterchen Miyo verschwunden. Der Puppenmacher hat es geschafft, sie vor Fairweather zu verstecken. Eine Porzellanmaske verdeckt ihr Gesicht. Das reicht, damit der Dämonische sie nicht erkennt.

Die Familie zieht weg. Außer der mechanischen Haushaltshilfe Miss Whittles – die Steampunk-Version eines Roboters, wenn man so will –, einem Arzt und Hauslehrerin Jenny hat Miyo keine sozialen Kontakte – bis sie den Gärtnerssohn Max kennenlernt. Ihre Gesichtsmaske, auch wenn die Modelle mit den Jahren flexibler und besser werden, machen eine Mimik praktisch unmöglich. Miyo wirkt kalt und unnahbar, obwohl sie das gar nicht ist. Dadurch kommt es immer wieder zu Missverständnissen, auch in ihrer Freundschaft mit Max.

Das ist aber immer noch besser, als Miyo in die Hände von Francis Fairweather fallen zu lassen, der schreckliche Dinge mit ihr vorhat. Und es läuft ja auch einigermaßen, jedenfalls solange Mr. und Mrs. Kobayashi am Leben sind. Bei ihrem Tod ist Miyo noch minderjährig und Steampunk-Roboter-Haushälterin Miss Whittles befolgt die Anweisung, das Mädchen an einen sicheren Ort zu bringen und alle Hinweise auf dessen Existenz zu vernichten. Die loyale Haushälterin weiß, was das für sie selbst bedeutet.

Der sichere Ort erweist sich als Mädchenheim. Miyos mutmaßlich stoische Ruhe ängstigt die anderen Zöglinge und provoziert die grausame Heimleiterin. Die sieht die Disziplin an ihrer Schule gefährdet durch ein Kind, das sich selbst von den härtesten Strafen unbeeindruckt zeigt. Sie sieht nur einen Ausweg: Das „kalte Mädchen“ schnellstmöglich an den Meistbietenden zu verschachern. Miyo bekommt Wind von der Sache und flieht …

Jetzt wird’s wild und abenteuerlich für die junge Miyo. Nach verschiedenen Zwischenstationen sieht es endlich so aus, als habe sie eine Gemeinschaft gefunden, die sie so akzeptiert wie sie ist. Äußerliche „Norm-Schönheit“ ist für diese Leute nicht das entscheidende Kriterium. Sie haben ein anderes Wertesystem. Doch Francis Fairweather ist immer noch hinter dem Mädchen her und ihm dank seiner klugen Begleiterin, die nicht immer eine Eule gewesen ist, dichter auf den Fersen denn je. Ist jetzt der gefürchtete Moment gekommen, da Miyo den Vertrag erfüllen muss, der lange vor ihrer Geburt über ihren Kopf hinweg geschlossen wurde?

Es ist eine düstere Welt in der die Verführung durch das Böse so stark ist und in der die „mechanischen Menschen“ anständiger und menschlicher agieren als der Homo sapiens. Die Geschichte ist über weite Strecken traurig und tragisch, doch wie Lady Strix an den kindischen Interessen und Eskapaden ihres teuflischen Partners verzweifelt, fand ich überaus amüsant. Die zwei sind wahrlich ein Gespann aus der Hölle! Ich sah die grantige Eule im Geiste um den Teufel herumtapern und meckern und maulen. Und er hat ihr ja intellektuell nicht viel entgegenzusetzen.

Die Sprache hat was Poetisches und die Autorin beschwört damit geschickt eine finstere Atmosphäre herauf. Ich könnte mir die Geschichte im Übrigen sehr gut als Film vorstellen.

Im Internet kursieren Spekulationen darüber, ob „der Clown“, den Miyo auf ihrer abenteuerlichen Flucht kennenlernt, jemand aus ihrer Vergangenheit sein könnte. Also, ich glaub’s nicht! Sie tragen beide eine Maske und müssen sich anstrengen, um beim jeweils anderen dahinter zu blicken. Das haben sie gemeinsam, das verbindet sie. Aber Miyo hat den Clown ja schon ungeschminkt gesehen und hätte ihn mit Sicherheit erkannt, wenn sie ihm schon früher begegnet wäre.

Fantasy-Romane mit Steampunk-Elementen habe ich bisher nur in Form von Jugendbüchern gelesen. Aber es funktioniert auch prima für Erwachsene.

Simone Keil, geboren 1971 in Hessen, interessierte sich schon als Kind weit mehr für Fantasiewelten und Geschichten als für die Realität. Nach langjähriger Tätigkeit im Vertrieb fand sie zurück zu den Dingen, die wirklich zählen im Leben und schreibt nun phantastische Romane für Jugendliche und Erwachsene. Die Autorin lebt mit ihrer Frau und ihrem gemeinsamen Cocker Spaniel in Thüringen. www.simone-keil-autorin.jimdosite.com

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Rezensentin: Edith Nebel 
E-Mail: EdithNebel@aol.com 
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