Lyndsay Faye: Die Entführung der Delia Wright, Roman, OT: Seven For A Secret, aus dem Englischen von Peter Knecht, München 2015, dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-423-26043-5, Klappenbroschur, 457 Seiten, Format: 13,8 x 3,8 x 21,3 cm, Buch: EUR 14,90, Kindle Edition: EUR 12,99, Audio-CD: EUR 17,99.
„Als wir in der Droschke saßen, erlaubte ich mir einen nicht gerade mitfühlenden Gedanken: Ich habe so gut wie gar nichts erfahren. (…) Aber ich wurde das ungute Gefühl nicht los, dass da noch etwas anderes war als dieses nichtssagende pauschale Nichts. Ein übles, wenn auch noch unbestimmtes Etwas. Ich hatte solche Ahnungen schon öfter gehabt, eine Art Klingeln im Kopf, das mir signalisierte, dass irgendwas nicht zusammenpasste , und wusste, dass irgendwo ein Webfehler sein musste.“ (Seite 313)
New York, im Winter 1846: Zweimal schon hat der 27jährige Timothy Wilde alles durch einen Brand verloren: als Kind seine Eltern und sein Zuhause und vor anderthalb Jahren seinen gesamten Besitz, seine körperliche Unversehrtheit und seinen Job als Barmann in „Nick’s Austernkeller“. Tims älterer Bruder Valentine – Feuerwehrmann, Captain bei der Polizei, Frauenheld, Raufbold und engagierter Demokrat – hat ihn danach bei der neu gegründeten New Yorker Polizei untergebracht.
Die Wilde-Brüder sind impulsiv und nicht gerade gut darin, sich an Regeln zu halten. Aber sie haben Verstand und Spürsinn, sind hartnäckig, mutig und gut vernetzt. Erst vor kurzem hat Tim mit der Unterstützung von Val eine spektakuläre Mordserie aufgeklärt. Bei so fähigen Leuten nimmt Polizeichef George Washington Matsell ein paar persönliche Unzulänglichkeiten in Kauf. Unter den Schlägertypen, korrupten Ganoven und sonstigen schrägen Vögeln seiner Truppe sind die beiden Wildes noch lange nicht die Schlimmsten.
Im Februar 1846 kommt die junge Floristin Lucy Adams völlig aufgelöst in Tims Büro in den „Tombs“, dem Hauptquartier der Polizei, und erzählt eine unfassbare Geschichte: Unbekannte hätten ihre Haushälterin niedergeschlagen und ihren Sohn Jonas und ihre Schwester Delia Wright entführt, während ihr Ehemann auf Geschäftsreise und sie bei der Arbeit war. Wer bitte kidnappt eine arme alleinstehende Lehrerin und den Sohn einer Blumenverkäuferin? Da ist doch nichts zu holen!
Doch es gibt einen Grund: Die rassige Lucy mit ihrem honigfarbenen Teint, den grünen Augen und braunen Locken mag zwar wie eine Latina aussehen, aber sie ist, wenn auch nur zu einem Achtel, Afroamerikanerin. Eine freie Schwarze aus Albany. Und so unglaublich es klingt: Es ist zu jener Zeit üblich und durchaus rechtens, freie Afroamerikaner als angeblich entlaufene Sklaven zu verschleppen und in die Südstaaten zu verkaufen. Ein einträgliches Geschäft für Sklavenjäger.
Solchen Gestalten sind auch Delia Wright und ihr Neffe in die Hände gefallen. Den Wilde-Brüdern gelingt es zum Glück mit nicht ganz sauberen Methoden die beiden Entführungsopfer zu befreien. Damit machen sie sich mächtige Feinde. Diese Feinde werden wohl auch dafür gesorgt haben, dass man bald darauf eine ermordete Frau in Valentine Wildes Bett findet. Was heißt „man“? Tim stolpert über die Tote. Val kann nicht der Mörder sein, er war nicht mal in der Nähe seiner Wohnung. Aber wer würde das glauben? Tim lässt die Tote verschwinden und setzt alles daran, den wahren Täter zu finden.
Und wo ist jetzt die Familie Adams/Wright, durch deren Rettung die Wilde-Brüder überhaupt erst in diesen Schlamassel hineingeraten sind? Wie vom Erdboden verschluckt! Haben die Sklavenjäger sie wieder in ihrer Gewalt? Tim Wilde macht sich Sorgen.
Seine Ermittlungen ergeben Verblüffendes: Was immer Lucy Adams ihnen über ihre Familie erzählt hat, hält keiner näheren Prüfung stand. Ihr Ehemann, zum Beispiel, hat ein Geheimnis. Kannte Lucy das? Und weiß auch ihre Schwester davon? Und was hat Silkie Marsh, die ebenso skrupellose wie machtgierige Bordellbetreiberin mit dem Verschwinden der Familie Adams/Wright zu tun? Ist das ihre Rache an den Wilde-Brüdern für die geschäftsschädigende Aufklärung des Kinder h u r e n-Falls (Lindsay Faye: DER TEUFEL VON NEW YORK)?
Zusammen mit seinem alten Kumpel, dem Afroamerikaner Julius Carpenter und dessen Freunde vom Bürgerschutzkomitee macht Tim sich auf die Suche nach der Familie Adams/Wright und ihrer wahren Geschichte. Dabei kommen sie den vergrätzten Sklavenjägern, der gewissenlosen Silkie Marsh, korrupten Polizisten und dem einen oder anderen charakterlich zweifelhaften Politiker in die Quere. Und irgendwo in diesem Wust von kriminellen Verflechtungen muss ja auch die Person stecken, die für den Tod der Frau in Vals Wohnung verantwortlich ist.
Timothy Wilde, der Polizist mit aller Macht für das Gute kämpft, erleidet schwere Verluste und Verletzungen, bis er endlich die Lösungen für seine Fälle gefunden hat. Es gibt ein paar faustdicke Überraschungen … und ein paar Fragen, die wohl für immer unbeantwortet bleiben.
Der moralisch flexible Wilde-Bruder Valentine mag der interessantere Charakter sein, aber erzählt wird die Geschichte aus Timothys Sicht. Tim will die Welt zu einem besseren Ort machen, während Valentine hauptsächlich darauf aus ist, die Gegebenheiten zu seinem Vorteil zu nutzen.
Tim kann nicht fassen, was auf legale Weise mit seinen farbigen Mitbürgern geschieht, seien sie nun Sklaven oder frei Geborene. Wie er verzweifelt versucht, seinen Kumpel vor Gericht herauszuboxen, ist atemberaubend! Tim setzt sich für einen stummen sechsjährigen Kaminkehrer ein und kümmert sich immer noch um Bird Dally, die ehemalige Kinder h u r e , die er bei seinem ersten großen Fall kennen gelernt hat. Nie mehr wird die Kleine ein „normales“ Schulmädchen sein, dafür hat sie zu viel Schreckliches erlebt. Und er hängt immer noch an seiner Jugendliebe Mercy Underhill, die mittlerweile im fernen London lebt und ihm lange und etwas wirre Briefe schreibt.
Diese Nebenhandlungen zeigen, was für ein Mensch Tim ist. Wenn er den aktuellen Fall mit seiner Vermieterin Elena Boehm und der vorzeitig erwachsen gewordenen Bird diskutiert, bringt das die Geschichte durchaus weiter. Manches allerdings bremst den Handlungsverlauf eher. Ist ja schön, dass Schriftstellerin Mercy ihren neuen Wohnort so wortreich und poetisch beschreiben kann … aber was ist jetzt mit der Frauenleiche? Ungeduldige Leser werden da leicht nervös, obwohl hier bei weitem nicht mehr so ausschweifend erzählt wird wie im ersten Band. Auch der Gebrauch der Gaunersprache Flash, der den TEUFEL VON NEW YORK so anstrengend zu lesen machte, ist im vorliegenden Buch deutlich zurückgegangen. Ein Glossar am Schluss übersetzt die Begriffe. Allzu oft nachschlagen muss man aber nicht. Das meiste erklärt sich aus dem Zusammenhang.
DIE ENTFÜHRUNG DER DELIA WRIGHT ist ein sorgfältig recherchierter und atmosphärisch dichter historischer Kriminalroman mit ein paar verflixt überraschenden Wendungen. Als Leser hat man aber kaum eine Chance, von selbst auf die Lösung zu kommen. Wenn Tim nicht am Schluss nicht jemanden gefunden hätte, der ihm Rede und Antwort steht, wäre er genauso schlau gewesen wie wir.
Die Autorin
Lyndsay Faye hat Englisch und Schauspiel studiert und war jahrelang als Schauspielerin tätig. Mit ihrem Mann und ihren Katzen lebt sie in Manhattan.
Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com
http://www.boxmail.de