Ulrike Renk: Die australischen Schwestern, Berlin 2015, Aufbau Verlag, ISBN 978-3-7466-3120-2, Softcover, 509 Seiten, Format: 13,4 x 3,4 x 20,5 cm, Buch: EUR 12,99, Kindle Edition: EUR 7,99.

Plötzlich stiegen Elsa die Tränen in die Augen. „Eine Mutter lässt ihr Kind nicht im Stich. Nicht so.“ und dann brachen ihre Wut und ihre Verzweiflung hervor, sie weinte und weinte. Um ihn, um sich, um ihre Mutter Minnie, die gestorben war und ihre Kinder zurücklassen musste, um Carola, die von ihrem Vater weggeschickt worden war, so wie Otto von Lily. Und Großmutter war auch von ihren Eltern an die Tante und den Onkel gegeben worden. Das schien etwas zu sein, was sich in der Familie wiederholte. (Seite 361)
Australien um die vorige Jahrhundertwende: Wie die Großeltern der Schwestern Carola, Mina und Elsa te Kloot ins Land gekommen sind, haben wir im Vorgängerband DIE AUSTRALIERIN erfahren. Gegen den Willen der wohlhabenden Familie hat Emilie Bregartner aus Othmarschen den Kapitän Carl Gotthold Lessing – einen Verwandten des Dichters Gotthold Ephraim Lessing – geheiratet und ist mit ihm und den Kindern um die Welt gesegelt, ehe sie sich in Australien niedergelassen haben. Acht Kinder hat das Paar und rund ein Dutzend Enkel.
Zu Reichtum kommen sie nie, aber (Groß-)Vater Carl Gotthold legt großen Wert darauf, dass alle Kinder und Enkel eine gute Bildung genießen und für ihren Lebensunterhalt selbst aufkommen können. Auch die Mädchen.
Carola muss nach Deutschland
Äußerst kritisch ist Carl Gotthold immer mit den Verehrern seiner weiblichen Nachkommen. Keiner ist ihm gut genug. Besonders den Freund seiner Tochter Wilhelmine „Minnie“, Rudolph te Kloot, lehnt er massiv ab. Die beiden heiraten trotzdem. Kurz nach der Geburt des fünften Kindes stirbt Minnie und für die Großeltern Lessing ist es selbstverständlich, nun die verwaisten Enkel aufzuziehen, zumal auf den Schwiegersohn kein Verlass ist.
Für seine älteste Tochter, die achtjährige Carola, hat der Witwer Rudolph te Kloot jedoch eigene Pläne. Er schickt sie nach Deutschland zu seiner Schwester Mathilde, deren Ehe mit Dr. Johann Ansing leider kinderlos geblieben ist. Was auf den ersten Blick wie eine gute Tat aussieht – ein Kind für die Schwester, eine verheißungsvolle Zukunft in einer großbürgerlichen Familie für die Tochter – hat in Wahrheit recht eigennützige und niedrige Beweggründe.
Großmutter Emilia ist über die Entwicklung so untröstlich wie die nach Deutschland verschacherte Enkelin. Als Emilia in Carolas Alter war, ist es ihr nämlich ganz ähnlich gegangen: Ihre Eltern sind zusammen mit dem jüngeren Bruder nach England ausgewandert, haben sie bei Onkel und Tante zurückgelassen und sich nie wieder um sie gekümmert. Doch es hilft alles nichts: Rudolph mag ein egoistischer Mistkerl sein, aber er ist der Vater der Kinder und kann über ihr Schicksal bestimmen.
Carola trifft es in Deutschland erstaunlich gut. Ihre Zieheltern sind zwar nicht mehr die Jüngsten und leben recht zurückgezogen, aber sie lieben das Mädchen und materiell fehlt es ihr an nichts. Die Familie hat je einen Wohnsitz in Hamburg und Krefeld. Von Carolas schönen Kleidern, den Dienstboten, Opern- und Theaterbesuchen und Verwandten, die in Schlössern wohnen, können ihre Schwestern daheim in Australien nur träumen. Und das tun sie auch, wenn sie ihre Briefe lesen. Dafür haben sie etwas, das ihrer Schwester im fernen Deutschland fehlt: den Umtrieb und den Zusammenhalt einer großen, liebevollen Familie. Nicht dass die Schwestern einander etwas missgönnen würden. Es ist ihnen nur bewusst, dass sie in völlig verschiedenen Welten leben, nicht nur auf verschiedenen Kontinenten.
Mina sucht ihren Weg
Die zweitälteste te-Kloot-Schwester, Hermine „Mina“ ist noch unschlüssig, was sie nach der Schule mit ihrem Leben anfangen will. Sie muss nachdenken. Im permanenten Gewusel der Großfamilie geht das schlecht, also besucht sie Tante Till, die zusammen mit ihrem Ehemann Joseph Finney in Wentworth Falls in den Blue Mountains eine Schule leitet. Joseph ist nicht gerade ein Sympathieträger, er ist steif, unnahbar und ein Rassist.
So ganz rund läuft die Ehe von Onkel und Tante nicht. Da hatten beide Partner wohl Erwartungen an die Beziehung, die sich nicht erfüllt haben. Aber Tante Till liebt ihren Mann und sieht ihm auch eine ausgesprochen egoistische Problemlösung nach.
Mina ist diese Beziehung ein Rätsel, aber sie war ja noch nie verliebt, also kann sie da nicht mitreden. Das wird sich erst ein paar Jahre später ändern, wenn sie den angehenden Pastor William Cleugh Black kennenlernt, der natürlich vor den strengen Augen des Großvaters keine Gnade findet. Zu arm! Wird die Liebe ihren Weg finden?
Elsa hat widersprüchliche Ziele
Wenn Opa erst wüsste, wen sich die jüngste Tochter von Minnie te Kloot als künftigen Ehemann ausgeguckt hat! Die impulsive Elsa, genannt „Prinzessin“ hat sich nämlich schon als kleines Mädchen in den Kopf gesetzt, einmal ihren um zwei Jahre jüngeren Cousin Otto Evers zu ehelichen, den Sohn ihrer jung verwitweten Tante Lily, geborene Lessing. Als Teenager möchte sie das immer noch, und auch Otto ist interessiert – wenn auch nicht unbedingt am Heiraten 😉 .
Seit Tante Lily Evers eine Schaftstation in den Atherton Tablelands leitet, kommt sie nur noch selten zu ihrer Familie nach Sydney. An Weihnachten 1904 fahren Elsa und Tante Molly, die Lehrerin, zu ihr auf Besuch. Elsa stellt erstaunt fest, dass ihre Tanten sich fernab ihres Elternhauses auf einmal ganz anders benehmen und dass sie bei weitem nicht alles über die beiden weiß. Die ledige Tante Molly raucht, kennt sich mit alkoholischen Getränken und hat anscheinend ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann. Auch Tante Lily scheint einen Freund zu haben.
Elsa ist schockiert und fasziniert zugleich. Die Großeltern würden tot umfallen, wenn sie davon wüssten, aber irgendwie cool ist das ja schon: unabhängig zu sein, sich vor niemandem rechtfertigen zu müssen und sich mit einem Lover nur die „Sonnenstunden“ zu teilen, nicht aber den schnöden Alltag. Vielleicht ist es doch keine so gute Idee, den Schaffarm-Vetter zu heiraten. Womöglich ist es die bessere Entscheidung, eine moderne, eigenständige Frau zu werden.
Cousin Otto sieht die Sache nicht so entspannt. Er empfindet den Lebenswandel seiner Mutter als skandalös und lässt sich zu einer dramatischen Aktion hinreißen, die weitreichende Konsequenzen hat.
Eine wahre Geschichte
Werden die te-Kloot-Schwestern ihren Weg machen? Welche Entscheidungen werden sie treffen? Wird sie das glücklich machen? Und werden sie einander jemals wiedersehen?
Was immer die Mitglieder des Lessing-te-Kloot-Clans mit ihrem Leben anstellen: die Autorin kann man nicht dafür verantwortlich machen. Sie erzählt – und ergänzt plausibel, was nicht überliefert worden ist – aus dem Leben einer real existierenden Familie. Auch an den vielen ähnlich klingenden Namen trägt sie keine Schuld. In dieser Sippe wimmelt es vor Carls und Mathilden, es gibt Clara und Klara, Emilia, Emilie und Amalia, Wilhelmine und Hermine, Elisabeth, Elsa und Elsie … Ulrike Renk hat ihr Möglichstes getan, die Personen mittels Spitz- und Kosenamen unterscheidbar zu machen. Der gezeichnete Stammbaum vorne im Buch ist trotzdem Gold wert.
Ob es dramatische Familienkrisen sind oder Elsas erste Reitversuche und andere Alltagserlebnisse: Man taucht vollkommen in die Geschichte ein, hofft, bangt, leidet und freut sich mit den Schwestern und ihrem Anhang. Weil man weiß, dass es eine wahre Geschichte ist, muss man mit der ganzen Bandbreite von Glück und Unglück rechnen, die das Leben bereithält. Da zaubert keine fürsorgliche Autorin für die Lieblingsfigur eine glückliche Fügung oder ein Happy End herbei. Wenn eine der Personen ein Charakterschwein war und andere darunter gelitten haben, dann ist das in dem Buch eben so, auch wenn man es sich anders wünschen würde.
Verschenkte Kinder, verhasste Schwiegersöhne
Zwei Motive tauchen in der Geschichte der Lessings immer wieder auf: Kinder, die weggegeben werden und aus verschiedensten Gründen bei Verwandten großwerden müssen und Heiratspläne, die auf vehementen Widerstand in der Familie stoßen. Manchmal erweist es sich als gut, dass die Ehe trotzdem geschlossen wurde, in anderen Fällen folgt die Katastrophe auf dem Fuße.
Wenn jemand eine Fehlentscheidung getroffen hat und ins Unglück gerannt ist, lässt Oma Emilia Lessing kein Selbstmitleid zu: „Das Leben hört nicht auf, nur weil es gerade nicht so läuft, wie man es sich vorstellt oder wünscht. Im Grunde genommen läuft es selten so, wie man es sich wünscht. Man darf auch ein paar Tage geknickt sein und jammern. (…) Aber dann, irgendwann, muss man die Ärmel hochkrempeln und sich wieder dem Leben stellen.“ (Seite 385) Eine kluge Frau! Und ihre Nachkommen lernen viel von ihr.
Die deutschstämmigen Lessings und te Kloots sind Wanderer zwischen den Kulturen. Und so wundert es die te-Kloot-Schwestern auch nicht, als ihnen verschiedene Aborigine-Frauen unabhängig voneinander eröffnen, dass ihr Totem das Schnabeltier sei, das auch in zwei Welten zu Hause ist: im Wasser und an Land. Ob die Mädchen daran glauben? „Manchmal“, bekennt Elsa.
Das Buch nimmt einen so gefangen, dass man regelrecht enttäuscht ist, wenn es nach rund 500 Seiten relativ abrupt aufhört. Auch wenn der Band zu Ende ist, die Lebensgeschichten der te-Kloot-Schwestern sind es noch lange nicht. Und so warten und hoffen wir auf eine Fortsetzung, in der die noch offenen Fragen beantwortet werden. Wer’s bis dahin nicht aushält, kann ja mal ein bisschen nach den Personen googeln …
Die Autorin
Ulrike Renk, Jahrgang 1967, studierte Literatur und Medienwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Krefeld. Mehr zur Autorin unter www.ulrikerenk.de.
Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com
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