Peter Beutler: Kehrsatz. Kriminalroman, Köln 2016, Emons-Verlag, ISBN 978-3-95451-967-5, Softcover, 333 Seiten, Format: 13,4 x 3 x 20,3 cm, Buch: EUR 11,90 (D), EUR 12,30 (A), Kindle Edition: EUR 9,49.
„Wenn er aber ehrlich sei, wundere er sich über Willi Däpps Bericht nicht besonders. Dass die Aussagen bezüglich Samstagvormittag, 27. Juli, damals, Anfang August 1985, keine besondere Beachtung fanden, sei nachvollziehbar, Immerhin seien bei der Polizei mehr als tausend Hinweise, die sich häufig widersprochen hätten, deponiert worden.“ (Seite 247)
Einen klassischen Krimi hatte ich erwartet, dessen Handlung einem der bekanntesten ungelösten Kriminalfälle der Schweiz nachempfunden ist. Es bleibt einem Autor dank der dichterischen Freiheit ja unbenommen, eigene Theorien über Täter, Motiv und Tathergang zu entwickeln und einen mysteriösen Fall in seiner Phantasie aufzuklären.
Minutiöse Rekonstruktion eines realen Mordfalls
Obwohl im Pressetext des Verlags stand: „Der Autor rekonstruiert die Geschichte in all ihrer Breite und ihren Details. Es gelingt ihm, die Palette [der] widersprüchlichen Zeugenaussagen und Fehler der Ermittlungsbehörden vor der Leserschaft auszubreiten (…)“, hatte ich nicht mit diesem etwas schwerfälligen Berichtsstil gerechnet, in dem ein großer Teil des Buchs verfasst ist. Jede Menge Details und indirekte Rede – das nimmt der Geschichte viel Schwung. Der Fall an sich wäre ja nicht ohne!
Gemeinde Kehrsatz, Juli/August 1985: Die Eheleute Eva und Abraham Mettler wundern sich, dass sich ihre erwachsene Tochter Julia nicht bei ihnen meldet. Sie wohnt mit ihrem Ehemann, dem Bauzeichner Micha Witschi, im Nachbarhaus und pflegt einen engen Kontakt zu ihren Eltern. Dass sie tagelang weder anruft noch vorbeikommt, ist absolut ungewöhnlich.
Ihrem Schwiegersohn, der immer hoch hinaus will und häufig fremdgeht, trauen Mettlers alles Schlechte zu, auch, dass er seiner Frau etwas angetan hat. Ihr Verschwinden scheint er jedenfalls nicht ernst zu nehmen. Er geht in aller Gemütsruhe seinen täglichen Verrichtungen nach und besucht sogar eine private Feier. Mettlers nutzen Witschis Abwesenheit um sein Haus von oben bis unten zu inspizieren. Dass sie auch in der Tiefkühltruhe nach ihrer verschwundenen Tochter suchen, lässt tief blicken. Als sie darin tatsächlich Julias unbekleidete Leiche finden, ist das natürlich ein Schock.
Hat Micha Witschi seine Frau erschlagen?
Wachtmeister Willi Däpp, Mitte 40, ist von Anfang an davon überzeugt, dass der Ehemann seine junge Frau erschlagen und die Kühltruhe gepackt hat. Da kann sein Alibi für das Wochenende noch so perfekt konstruiert sein.
Witschi, der nach einem Unfall untauglich für den Militärdienst ist, engagiert sich ersatzweise im Zivilschutz. Dort hat er eine Menge Freunde – vor allem Freundinnen. Gegner, die ihn für einen aufgeblasenen Hochstapler und Schwätzer halten, hat er auch einige, und deshalb ist nie so recht klar, wer eine wahrheitsgemäße Zeugenaussage macht, wer sich wichtig tut, wer sich irrt und wer lügt, um ihn aus dem Fall herauszupauken oder ihm zu schaden.
Micha Witschi leugnet die Tat. Wachtmeister Däpp versucht trotz widriger Umstände, sein Alibi zu zerpflücken und offene Fragen zu klären. Wann wurde Julia erschlagen? In der Nacht vom 26. auf den 27. Juli oder später? Was war die Tatwaffe und wo ist sie jetzt? Wurde Julia daheim getötet oder auswärts und dann im Kofferraum des Familienautos aufs heimische Grundstück transportiert? Hat Witschi die Leiche seiner Frau in die Müllsäcke verpackt, die er im Zivilschutzbüro abgezweigt hat? Und hat er auch etwas mit dem mysteriösen Tod von Anna Heini und Hedi Wampfler zu tun, zwei Angehörige des Zivilschutzes, die er sehr gut gekannt hat?
Wachtmeister Däpp lässt nicht locker
Obwohl Witschi die Tat nie gesteht, wird er 1987 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Ein Jahr später nimmt sich ein Journalist seines Falles an und weist in seiner Beitragsserie so viele Ermittlungsfehler nach, dass der Fall neu aufgerollt und Witschi 1993 freigesprochen wird.
Das kann Wachtmeister Däpp so nicht stehenlassen. Der Mann ist ein Mörder und es kann nicht sein, dass er ungestraft davonkommt! Däpp ermittelt weiter, obwohl seine Vorgesetzten und der Staatsanwalt die Sache als erledigt betrachten und es ihm ausdrücklich untersagen. Er bleibt stur, was ihn schlussendlich seinen Job kostet. Als Privatdetektiv betreibt er mit Hilfe zweier befreundeter Juristen seine Ermittlungen weiter. Auch noch im Jahr 2015, obwohl allen klar ist, dass der Fall in Kürze verjährt. Für den Mord an seiner Frau kann Witschi also nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden, ganz egal, was man ihm jetzt noch nachweist.
Das ist natürlich auch Witschi klar und er nutzt schnell noch die Chance, aus dem Fall Kapital zu schlagen, ehe die Sache vielleicht niemanden mehr interessiert. Er bietet dem Journalisten Isidor Ehrsam an, ihm die ganze Wahrheit zu erzählen – gegen Bares. Ehrsam lässt sich mit Rückendeckung seiner Vorgesetzten darauf ein, aber nicht aus Menschenfreundlichkeit.
Überraschung kurz vor der Verjährung
In den letzten Jahren hat die Wissenschaft enorme Fortschritte gemacht. Privatdetektiv Däpp und seinen Leuten stehen nun Informationen zur Verfügung, die sie beim ersten und zweiten Prozess gegen Witschi noch nicht hatten. Doch plötzlich nimmt der Fall eine vollkommen überraschende Wendung …
Weil die Geschichte nicht linear erzählt wird, sondern ständig durch die Jahrzehnte springt und mal den Mord, mal den Werdegang des Tatverdächtigen, dann wieder die Zeit nach seinem Freispruch oder die Gegenwart beleuchten, ist es nicht ganz einfach, den Ablauf der Ereignisse im Blick zu behalten. Da ist das Nachwort sehr hilfreich, in dem der Autor den realen Fall aufdröselt, der Vorbild für dieses Buch war. Dankenswerterweise gibt es im Anhang auch ein dreiseitiges Personenregister. Das hilft enorm bei der Orientierung.
Ein bisschen sperrig zu lesen
Ausgestiegen bin ich bei der akribischen Analyse der verschiedenen Zeugenaussagen. Das liest sich streckenweise so sperrig wie eine Fallakte. Wer wann was gesagt oder zu sehen geglaubt hat und warum das wahr sein kann oder auch nicht … Mit den vielen Details waren damals Polizei und Gericht überfordert, und da soll nun ich als Romanleserin durchblicken? Eigentlich möchte ich gar nicht die Arbeit machen müssen, an der schon gestandene Ermittlungsprofis gescheitert sind.
Als Leser möchte man schon wissen, was wirklich mit Julia geschehen ist. Und Micha Witschi, der vielleicht an einer Persönlichkeitsstörung leidet, aber auf jeden Fall aufgrund einer lieblosen und streng religiösen Erziehung ein recht verkorkstes Welt- und Menschenbild hat – ist genau die Art von egozentrischem Fiesling, der man es nicht gönnt, mit einer kriminellen Tat davonzukommen. Das hat mich bei der Stange gehalten. Trotzdem war mir das zu viel Dokumentation und zu wenig Krimispannung. Wenn mir von Anfang an klar gewesen wäre, dass das Buch hauptsächlich eine minutiöse Rekonstruktion eines realen Falles ist und nur am Rande romanhaft aufbereitet, hätte ich es nicht gelesen.
Der Autor
Peter Beutler, geboren 1942, ist in Zwieselberg aufgewachsen, einem kleinen Dorf am Fuße der Berner Alpen. Als promovierter Chemiker war er Lehrer am Gymnasium Musegg in Luzern. Seit 2007 lebt er mit seiner Frau am Thunersee.
Rezensent: Edith Nebel
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