Sarit Yishai-Levi: Das Meeresblau von Tel Aviv. Roman

Sarit Yishai-Levi: Das Meeresblau von Tel Aviv. Roman, OT: Isha Me-Ever La-Yam, aus dem Hebräischen übersetzt von Ruth Achlama, Berlin 2021, Aufbau-Verlag, ISBN 978-3-351-03822-9, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 555 Seiten, Format: 12,5 x 4,6 x 21,5 cm, Buch: EUR 24,00 (D), EUR 24,70 (A), Kindle: EUR 16,99.

Abb.: (c) Aufbau Verlag

„Unglaublich, wie Blut- und Schicksalsbande uns verbinden, dachte ich, wie das Schicksal meiner Großmutter auf das meiner Mutter eingewirkt hat und das meiner Mutter wiederum auf meines. Wie diese Frau, die ich vorher nie gesehen oder gar gekannt habe, so tief in mir steckt, und wie unser Leben, ohne unser Zutun, miteinander verquickt ist, so dass wir ein und dasselbe Schicksal teilen, ob wir wollen oder nicht.“ (Seite 549)

Tel Aviv, Mitte der 70er-Jahre: Es ist schon was dran an dem Gedanken, dass unbewältigte persönliche oder familiäre Probleme über Generationen weitergereicht werden. Hätte ich Lily Zoref, Jahrgang 1927, im realen Leben kennengelernt, hätte ich gedacht, meine Güte, was für ein schreckliches Weib!

Lily hasst die Menschen

Für ihren Mann Schaul und ihre erwachsene Tochter Elija hat sie offenbar nur Verachtung übrig. Wenn sie überhaupt mit ihnen spricht, keift sie sie an und offenbart dabei einen Wortschatz, bei dem selbst ein alter Seeräuber rote Ohren bekäme. Um ihre Tochter oder den Haushalt hat sie sich nie gekümmert, das war und ist Schauls Aufgabe, obwohl er als Juwelier und Goldschmied einen Laden und eine Werkstatt zu führen hat.

Lily geht jeden Morgen aus dem Haus und kommt erst nach Einbruch der Dunkelheit wieder heim. Aber nicht, weil sie zur Arbeit muss. Es hat Jahre gebraucht, bis Schaul herausbekommen hat, wo sie ihre Tage verbringt: auf dem Friedhof, auf dem ihr Erstgeborener begraben liegt. Und das hält sie eisenhart seit fast 30 Jahren durch. Der kleine Ron war das einzige Wesen, das sie je geliebt hat – und er ist gestorben, als er noch kein Jahr alt war. Mit der Liebe zu dem Jungen wäre es wahrscheinlich vorbei gewesen, wenn er alt genug geworden wäre, um eigene Vorstellungen von seinem Leben zu entwickeln. Aber so weit ist es ja nicht gekommen.

Die Tochter zieht wieder ein

Neben der Frage, warum Schaul Zoref das alles klaglos erträgt, wundert man sich über die Tochter der beiden, Elija. Die ist mit dem mäßig erfolgreichen Schriftsteller Ari verheiratet. So, wie sie die Beziehung schildert, denkt man als Leser:in sofort: Was für ein narzisstischer A***! Und für den hat sie ihr Studium und alle ihre Träume sausen lassen? Er behandelt sie ja noch schlechter als Lily es je getan hat. Elija sieht das naturgemäß anders und ist vor Freude ganz aus dem Häuschen, als sie Ari endlich in Paris besuchen kann, wo er seit einiger Zeit aus beruflichen Gründen weilt. Die Freude währt nicht lange: Er lebt dort längst mit einer anderen zusammen, serviert seine Frau eiskalt ab und lässt sie mitten in der Stadt stehen. Na, klasse!

Elija ist fix und fertig, fliegt zurück nach Tel Aviv und zieht wieder zu ihren Eltern, obwohl sie die deprimierende Stimmung dort nur zu gut kennt. Mutter Lily, die ihren Schwiegersohn von Anfang an durchschaut hat, hält mit ihrer Meinung über ihn nicht hinterm Berg. Trost kann Elija allenfalls von ihrem Vater erwarten. Dass es der gefühlskalten Lily doch nicht nur ums Rechthaben geht, zeigt sich, als Elija einen Suizidversuch unternimmt. Das erschreckt sie. Auch wenn ihr die Tochter als Person gleichgültig ist: Verluste verkraftet sie schlecht.

Warum ist Lily so geworden?

Die Jahre außerhalb des Elternhauses lassen Elija ihre Eltern mit anderen Augen sehen. Als Kind nimmt man seine Eltern ja hauptsächlich als „Funktionsträger“ wahr und fragt sich nicht, was sie denken und fühlen und wie sie waren, ehe sie Mama und Papa wurden. Jetzt will Elija wissen, wieso ihre Mutter so abweisend und bösartig geworden ist. So kommt man ja nicht auf die Welt. Und sie erfährt, worüber man nie zuvor mit ihr gesprochen hat.

Vor dem Kloster ausgesetzt

Lily Zoref war ein Findelkind. Man hat sie als Neugeborene vor einem Kloster ausgesetzt. Die englischen Nonnen haben sie als Katholikin erzogen, wohl wissend, dass sie die Tochter einer Jüdin ist und damit selbst eine. Sie ist 10, als sie davon erfährt, und glaubt nun zu verstehen, warum sie sich im Kloster immer als Außenseiterin gefühlt hat. Sie läuft weg, lebt eine Weile auf der Straße und landet schließlich in einem Kinderheim, wo man ihr den Nachnamen „Israel“ gibt.

Lily mag eine misstrauische Giftspritze mit Prekariatshintergrund sein, aber sie ist eine Schönheit. Als der junge Goldschmied Schaul Zoref sie sieht, ist er sofort hin und weg. Konnte er schon seinen Berufswunsch (Lehrer) nicht gegen seine Familie durchsetzen, ist er jetzt wild entschlossen, sich bei der Wahl seiner Ehefrau nicht dreinreden zu lassen. Er will Lily. Lily will zwar nicht unbedingt Schaul, aber ein Leben in Sicherheit, und das ist okay für ihn. Dass seine Eltern sie nicht akzeptieren, ist ihm egal. 

Der Kontakt zu seinen Eltern und Geschwistern bricht ab, und Schaul und Lily haben nur noch einander. Das bleibt auch so, denn mit Lily an der Seite kann man keine Freundschaften pflegen. Sie beißt alle weg. Das ist eine Schicksalsgemeinschaft aus der Hölle, könnte man meinen.

Lilys Lebensfrage: Warum?

Elija, die nach ihrer Trennung von Ari eine Therapie macht, therapiert ihre Mutter kurzerhand mit. Die wird tatsächlich ein bisschen offener, nachdem sie es geschafft hat, mit ihrer Tochter über ihre Vergangenheit zu sprechen. Ob es noch besser würde, wenn Lily endlich wüsste, warum ihre Mutter sie damals ausgesetzt hat? Diese Frage plagt sie schon ihr Leben lang. Wie man auf ein Kind verzichten kann, ist Lily unbegreiflich. Sie schafft es ja nach 30 Jahren noch nicht, ihren verstorbenen Sohn loszulassen.

Elija forscht nach und findet heraus, dass ihre Großmutter Rachel das Land schon vor Jahrzehnten verlassen hat. Und in den 70er-Jahren, in denen die Geschichte spielt, ist es gar nicht so leicht, herauszufinden, ob sie noch lebt und wenn ja, wo. Es gibt ja noch kein Internet. 

Überraschung!

Plötzlich haben sie eine Adresse! Lily und Schaul, Elija und ihr neuer Lebenspartner Eldad halten sich gar nicht erst damit auf, sich vorab anzukündigen. Sie steigen einfach ins nächste Flugzeug und machen einen Überraschungsbesuch. Dass Rachels Familie vielleicht gar nichts von ihrer Tochter weiß und auch nicht wissen sollte, kommt ihnen nicht in den Sinn. Es wäre ihnen auch egal. Lily wartet seit 50 Jahren auf eine Antwort, und war noch nie so nahe dran wie jetzt. Also, liebe Family, jetzt Butter bei die Fische, und ein bisschen plötzlich, ja? 

Was die vier Besucher aus Israel nun über Lilys Mutter erfahren, macht sie sprachlos. Und das will was heißen! (Wieso sind die eigentlich so schockiert, als sich herausstellt, dass ihre Gastgeberin Hebräisch versteht? Davon wäre ich sicherheitshalber ausgegangen! 😀 )

Religion, Misogynie, tyrannische Eltern

Das ist hier natürlich kein Wettbewerb darum, wer die ärmste Socke ist. Aber die Geschichte der jungen Rachel fand ich noch schrecklicher und deprimierender als Lilys. Und was ist in dieser Familiensaga das Problem, neben Religion, Misogynie und der vielzitierten toxischen Männlichkeit? Eltern, die von ihren Kindern bedingungslosen Gehorsam verlangen und nicht bereit sind, sie ihr eigenes Leben leben zu lassen. Ich zeige nicht mit dem Finger aufs Patriarchat, jedenfalls nicht nur. Hier sind ein paar Mütter unterwegs, die eine Herrschsucht und eine Anspruchshaltung an den Tag legen, dass es eine wahre Pracht ist. Und dann wundern sie sich …!

Ja, Probleme werden gern mal von einer Generation an die nächste weitergegeben. Aber das muss nicht bis zum jüngsten Gericht so bleiben. Wenn man sich mit seiner eigenen Geschichte auseinandersetzt und seine Themen bewältigt statt sie zu verdrängen, besteht eine Chance, dass die Kette durchbrochen wird. Es muss nicht auch noch aus Elija eine verbitterte Schreckschraube werden. Hoffen wir, dass die Zoref-Sippe die Kurve kriegt!

Familie: Himmel und Hölle

Der Roman ist spannend, weil man die familiären Hintergründe verstehen will. Aber manchmal ist es schwer auszuhalten, mit anzusehen, was die Menschen hier alles erdulden, weil sie das für ihre Pflicht halten. Kaum einer schafft den Absprung und fängt anderswo nach seinen Vorstellungen ein neues Leben an. Das Leben ohne Familie ist problematisch, das Leben mit Familie aber auch. Sie ist Himmel und Hölle zugleich.

Gelernt habe ich auch was: Ich hätte in Nordmazedonien keine Sepharden vermutet, sondern Aschkenasim. Aber die Zorefs sprechen eindeutig Ladino. Also habe ich gegoogelt und eine weitere interessante Geschichte hinter der Geschichte entdeckt … Sowas finde ich immer toll!

Die Autorin

Sarit Yishai-Levi, geboren 1947 in Jerusalem, hat als Schauspielerin, Journalistin, Korrespondentin und Moderatorin gearbeitet. Mit ihrem ersten Roman „Die Schönheitskönigin von Jerusalem“, eroberte sie die Bestsellerliste.

Die Übersetzerin

Ruth Achlama, geboren 1945, lebt seit 1974 in Israel und übersetzt seit Anfang der 80er Jahre hebräische Literatur, darunter Werke von Amos Oz, Meir Shalev, Yoram Kaniuk und Ayelet Gundar-Goshen. Für ihre Arbeit wurde sie unter anderem mit dem deutsch-israelischen Übersetzerpreis und dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Rezensentin: Edith Nebel 
E-Mail: EdithNebel@aol.com 
www.boxmail.de

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