Charlotte Roth: Grandhotel Odessa. Der Garten des Fauns (Band 2), Roman, München 2021, Droemer Knaur, ISBN 978-3 426-30803-5, Softcover, 575 Seiten, Format: 12,5 x 3,57 x 19 cm, EUR 12,99 (D), EUR 13,40 (A), EUR 9,99, auch als Hörbuch lieferbar.
„Die Zeiten waren schwierig. Aber sie waren schon viel schwieriger gewesen. Und wenn Sommer war, so wie jetzt, bewies die Stadt Odessa einmal mehr ihr außerordentliches Talent, alle Zeiten samt ihren Schwierigkeiten zu ignorieren.“ (Seite 33)
Odessa, 1920 bis 1945: Die Geschichte aus Band 1 (GRANDHOTEL ODESSA. DIE STADT IM HIMMEL) scheint sich hier unter leicht veränderten Vorzeichen zu wiederholen. Damals wurden die unscheinbare aber clevere Hotelerbin Oda Liebenthal aus Odessa und ihre Kindheitsfreundin, die ebenso schöne wie einfältige Belle von Arndt aus Berlin, von Wahlschwestern zu erbitterten Rivalinnen. Jetzt ereilt Belles Tochter Manon Albus und ihre Cousine Clara Schneider-Arndt ein ähnliches Schicksal.
Manon, lieb und hübsch aber eine hohle Nuss, ist bei ihre Tante Oda in Odessa aufgewachsen. Ihre Mutter Belle ist, als das Mädchen 8 Jahre alt war, ohne sie mit ihrem zweiten Ehemann, dem Oberst von dem Knesebeck, nach Berlin gegangen. Für das Kind war’s wahrscheinlich besser so. Belles Ehe ist eine Katastrophe und mit Stiefschwester und Halbbruder wär’s auch nicht ganz einfach geworden. Und bei Tante Oda ist es auf ein (Pflege-)Kind mehr oder weniger nicht angekommen.
Komplizierte Familienverhältnisse
Obwohl Hotelchefin Oda streng und geschäftsmäßig wirkt und nichts Mütterliches an sich hat, zieht sie fünf Kinder groß: den musisch begabten Pflegesohn Maxim, Sohn einer verstorbenen Hausangestellten – wer sein Vater ist, darüber kursieren seit Jahren die wildesten Gerüchte – sowie ihre drei eigenen Söhne: den griesgrämigen Edvard, den Spaßvogel Hanno und Kasimir, den Nachkömmling, der nichts als Sport im Kopf hat. Und jetzt auch noch Manon.
Was außer Oda und ihrem Ehemann, dem baltendeutschen Schriftsteller Leo Ullrich, niemand weiß: Nur Hanno ist sein leiblicher Sohn. Die Ehe war von Anfang an ein in beiderseitigem Einvernehmen geschlossenes Zweckbündnis. Edvard ist der Spross eines italienischen Grafen, Kasimirs Vater Bogdan ist mit Odas Cousine verheiratet. Bogdan wird später Generalsekretär der KP und damit zum mächtigsten Mann der Ukraine.
Diese verworrenen Familienverhältnisse sind wichtig für die Geschichte, weil Oda dadurch gut vernetzt ist, was ihrem Hotel und ihrer Familie zugutekommt. Andererseits macht sie das erpressbar, und das ist für alle, die privat oder beruflich von ihr abhängig sind, eine nicht zu unterschätzende Gefahr.
Manon & Maxim: ein schönes Paar …
Die Kinder werden erwachsen und Manon verliebt sich in ihren Pflegebruder Maxim. Optisch wären sie ein schönes Paar, aber intellektuell trennen sie Welten. Maxim schwärmt für die Dichter Ossip Mandelstam und Anna Achmatowa. Er träumt davon, selbst Schriftsteller zu werden. Damit kann die naive Manon nichts anfangen. Vielleicht wären sie trotzdem glücklich geworden, doch dann quartieren sich besagte Dichter für längere Zeit im Grandhotel Odessa ein und zur selben Zeit kommt Verwandtenbesuch aus Berlin: Manons Onkel Bodo (von) Arndt und seine Tochter Clara.
Die Überfliegerin aus Berlin
Clara Schneider-Arndt ist eine geistige Überfliegerin, hat mit 16 schon Abitur gemacht und studiert Jura. Sie ist vier Jahre jünger als Manon, und obwohl sie keine Schönheit ist und sich fürchterlich anzieht, wird sie für Manon von der einstigen „Himmelsleiter-Schwester“ zur Konkurrentin. Claras Energie und Ausstrahlung kann sich niemand entziehen. Vor allem Maxim ist begeistert von ihr, weil sie nicht nur die Werke seiner geliebten Dichter kennt, sondern sich auch wunderbar mit ihnen versteht. Dass Clara kein romantisches Interesse an Maxim hat, kapiert Manon nicht und schmollt.
Am Ende des Sommers fahren Clara und ihr Vater zurück nach Berlin und Manon hätte Maxim wieder für sich. Aber der hat auf einmal ganz sonderbare Ideen. Dann bricht der 2. Weltkrieg aus und private Befindlichkeiten rücken in den Hintergrund.
Kriegswirren
War es vorher schon schwierig, das Hotel am Laufen zu halten – im Prinzip war es nur mit Bogdans Hilfe möglich –, geht jetzt praktisch gar nichts mehr. Oda und ihre Söhne geraten in einen Wust von Polit-Intrigen und persönlichen Machtkämpfen. Die freien Bauern, die das Hotel seither mit Lebensmitteln beliefert haben, werden mit brutalsten Mitteln in die Kolchosen gezwungen (Stichwort „Holodomor“). Odas jüdische Lieferanten müssen entweder flüchten oder werden ermordet. Es gibt nichts, mit dem man Hotelgäste verpflegen könnte – die nach wie vor anreisen.
Deutschstämmige Odessiten und Baltendeutsche werden als „Nazis“ schikaniert und sollen „nach Hause verschwinden“, selbst wenn die Familien seit Jahrhunderten in Osteuropa ansässig sind und zu Deutschland keinen Bezug haben. Auch Liebenthals bekommen das zu spüren. (Ist die Familie überhaupt deutscher Abstammung? In Band 1 wird erwähnt, dass Liebenthal lediglich ein angenommener Name sei. Welcher ethnischen Gruppe die Sippe wirklich entstammt, bleibt offen.)
Söhne, Freunde, Ehemänner ziehen in den Krieg und niemand weiß, ob sie noch leben. Besonders übel dran ist, wer als Deutschstämmiger einen jüdischen Ehepartner hat. Auch das gibt’s in Odas persönlichem Umfeld.
Der Erzfeind wittert Morgenluft
Eine Familienlegende besagt, solange der Faunbrunnen im Hotelgarten sprudelt, wird auch das Grandhotel Odessa Bestand haben. Aber wie lange wird er das noch tun, jetzt, wo alles den Bach runtergeht? Selbst der der Erzeind der Liebenthals, Odas Cousin Anselm Fleißner, wittert jetzt Morgenluft. Abgeschnitten von den Familiennachrichten aus Odessa treiben unterdessen der Eisenbahner Bodo von Arndt und seine Tochter Clara in Berlin ein brandgefährliches Spiel …
Bewegte Weltgeschichte
Komplexe Familiengeschichten sind hier raffiniert mit bewegter Weltgeschichte verwoben. Und mittendrin, als temporärer Zufluchtsort vor allen Krisen, Gefahren und Katastrophen, das Grandhotel Odessa.
Band 1 sollte man schon gelesen haben, weil man sonst mit den undurchsichtigen verwandtschaftlichen Verhältnissen ins Schleudern kommt. Selbst wenn man die Vorgeschichte kennt, ist es nicht leicht, den Überblick über Mütter, Väter, Stief-, Pflege-, Kuckucks- und leibliche Kinder zu behalten. Auch die handelnden Personen scheinen da manchmal Schwierigkeiten zu haben, was jede Menge Leid und Drama verursacht.
Ein letztes Geheimnis
Gelacht habe ich, als meine Lieblings-Nebenfigur, die exzentrische russische Fürstin Lidija Petrovna Bezborodko, aka Maria Peters, zum guten Schluss noch ein weiteres ihrer vielen Geheimnisse aus dem Hut zaubert. So ist das Leben eben: bei aller Tragik manchmal auch ein bisschen komisch.
So schrecklich und schwer erträglich die Schicksale mancher Figuren auch waren – mich hat es förmlich in diesen Roman hineingezogen. Ich habe die 560 Seiten (der Rest ist Glossar) an einem einzigen Sonntag ausgelesen. Das kommt bei mir nicht allzu häufig vor und spricht für die Faszination, die von dieser Familiensaga ausgeht.
Die Autorin
Charlotte Roth, Jahrgang 1965, ist gebürtige Berlinerin, Literaturwissenschaftlerin und seit zehn Jahren freiberuflich als Autorin tätig. Charlotte Roth hat Globetrotter-Blut und zieht mit Mann und Kindern durch Europa. Sie lebt heute in London, liebt aber Berlin über alles.Ihr Debüt, „Als wir unsterblich waren“, war ein Bestseller, dem seitdem zahlreiche weitere Romane über Frauenschicksale vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte folgten.
Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
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