Susann Sitzler: Geschwister. Die längste Beziehung des Lebens

Susann Sitzler: Geschwister. Die längste Beziehung des Lebens, Stuttgart 2014, Klett-Cotta-Verlag, ISBN 978-3-608-94801-1, Hardcover mit Schutzumschlag, 352 Seiten, Format: 20,4 x 13,2 x 2,6 cm, Buch: EUR 22,95, Kindle Edition: 18,99.

Abbildung: © Klett Cotta
Abbildung: © Klett Cotta

 

„Die Beziehungen zu Geschwistern – und zwar zu leiblichen, erworbenen, selbstgewählten, nahen und fernen – handeln immer von der Frage: Was bin ich für ein Mensch und wo gehöre ich hin? Und wer bestimmt, wie ich mich verhalte? Es sind die zentralen Fragen der Identität.“ (Seite 331)

Geschwisterforschung gibt es erst seit ungefähr 30 Jahren. Eigentlich erstaunlich, wenn man bedenkt, wie sehr die Erfahrungen mit Brüdern und Schwestern den Umgang mit unseren Mitmenschen prägen. Durch die lernen wir teilen und verhandeln, Rivalität und Konfliktlösung. Vertrauen und Zusammenhalt erwahren wir in diesem Kreis ebenso wie die Grenzen unserer Macht. In Abgrenzung zu den Geschwistern suchen wir uns „Nischen“, in denen unsere individuellen Fähigkeiten zur Geltung kommen, ohne dass wir uns ständig auf dem Schlachtfeld der unmittelbaren Konkurrenz behaupten müssen. So gibt’s dann einer Familie den Nerd und die Sportskanone, den ausgeflippten Freak und die brave Konservative. Selbst wenn es ganz dumm läuft und man überhaupt keinen Draht zu seinen Geschwistern hat, ist es gut, dass es sie gibt: „Geschwister heißt, dass man zusammengehört, ohne sich lieben zu müssen. Gelernt zu haben, wie das geht, kann im Leben ein unschätzbarer Vorteil sein.“ (Seite 56)

Susann Sitzler nähert sich dem Thema des Buchs aus einem sehr persönlichen Blickwinkel. Sie greift auf ihren eigenen Erfahrungsschatz zurück und untermauert ihre Erlebnisse, Empfindungen und Schlussfolgerungen mit Erkenntnissen aus der Geschwisterforschung. Erfahrung hat sie reichlich: Sie hat eine zehn Jahre ältere leibliche Schwester sowie zwei Stiefbrüder aus der zweiten Ehe ihrer Mutter. Beide Stiefbrüder sind Adoptivkinder und entstammen zwei verschiedenen Familien. Aus der zweiten Ehe von Susanns Vaters gibt es außerdem noch drei deutlich jüngere Halbgeschwister, mit denen sie zwar nie den Alltag geteilt hat, aber dafür einige genetisch bedingte Gemeinsamkeiten entdeckt. Jede dieser Geschwisterbeziehungen hat ihre ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten und Probleme.

Anhand dieser Familienkonstellationen und, wo nötig, an Beispielen aus dem Bekanntenkreis der Autorin erfahren wir, was Geschwister sind: Rivalen, Verbündete gegen den Rest der Welt, Übungspartner im sozialen Trainingscamp der Familie, Vorbilder, unter Umständen Ersatzeltern und vieles andere mehr.

Weil es von der klassischen bürgerlichen Kleinfamilie – Vater, Mutter und leibliche Kinder –, heute zahlreiche Ausnahmen gibt, gibt’s auch ein Kapitel mit dem Titel „Wo man Geschwister herbekommt“. Die Kernfamilie ist sowieso nicht die Urform gesellschaftlicher Organisation, sondern ein Produkt der Industrialisierung und war nur rund 150 Jahre lang geltende Norm. „Davor und seither ist Familie eher ein Sammelsurium von Lebensformen mit Menschen, die mehr oder weniger verwandt (…) zusammen ihren Alltag organisieren.“ (Seite 154)

Neben der Kernfamilie gibt es Familien mit Halb,- Stief,- Adoptiv- und Pflegegeschwistern sowie „Regenbogenfamilien“ verschiedenster Art. Jede Form der Patchworkfamilie hat ihre Besonderheiten. Familien sind hierarchische Gemeinschaften, und in zusammengewürfelten Sippen muss sich diese Hierarchie erst herausbilden. Wenn man Glück hat und es schafft, mit Ritualen und Regelmäßigkeiten für Bindungen zu sorgen, rümpelt sich das innerhalb der neu gemischten Familie irgendwie zurecht. „Es sind die Kinder, die ein Patchwork zusammenwachsen lassen, in ihrem Tempo und mit ihren Mitteln.“ (Seite 179), denn „Kinder und Jugendliche haben eine enorme Fähigkeit, Bindungen einzugehen.“ (Seite 178)

Geschwisterlichkeit kann tatsächlich erlernt werden. Interessant ist ein Exkurs in andere Kulturen, die die Begriffe „Brüder und Schwestern“ wesentlich weiter fassen als wir hier in Mitteleuropa. (Seite 198 – 205)

Enge kindliche Geschwisterbeziehungen lockern sich meist in der Pubertät, wenn die Kids sich mehr am Freundeskreis als an der Familie orientieren und sich verlieben. Negative, belastende und krankmachende Beziehungen zu Geschwistern wird man allerdings nicht „automatisch“ los. Distanz allein ist nicht das Allheilmittel. „Geschwister wirken auch, wenn sie nicht da sind.“ (Seite 240) Ob Kontaktabbruch oder Versöhnung – man muss es irgendwie schaffen, mit alten Kränkungen und enttäuschten Erwartungen abzuschließen. Sie zeitlebens mit sich herumzuschleppen, macht krank.

Am angenehmsten ist es natürlich, wenn es einem gelingt, die kindliche Geschwisterbeziehung auf eine erwachsene Basis zu stellen: seinen Geschwistern respektvoll auf Augenhöhe zu begegnen und sie als erwachsene Menschen wahrzunehmen, nicht mehr als den bestimmenden großen Bruder oder als die nervige kleine Schwester, der man nichts zutraut. Dann können aus Geschwistern Freunde werden. Sollte das nicht funktionieren, ist es aber auch in Ordnung. Es steht nirgends geschrieben, dass man als Erwachsener mit seinen Geschwistern Umgang pflegen oder sie gar lieben muss.

„Der Verlauf von Geschwisterbeziehungen ist und bleibt unberechenbar. Das Ideal der sich harmonisch unterstützenden und auf Augenhöge ergänzenden Geschwisterlichkeit kann ein Modell sein, wie Geschwister miteinander leben. Aber es ist nur eines von vielen. Geschwisterbeziehungen dürfen sich auch so mittelmäßig durchs Leben wurschteln oder sogar vollkommen schiefgehen. Sie haben trotzdem einen Sinn.“ (Seite 303)

Das ist natürlich nur ein kleiner Auszug der Erkenntnisse, die man aus der Lektüre von Susann Sitzlers GESCHWISTER-Buch gewinnen kann. Mein Arbeitsexemplar dieses Buchs sieht vielleicht aus …! Ich habe mir bald auf jeder Seite irgendwelche Textstellen markiert. Man erkennt in den Schilderungen eigene Verhaltensweisen und Denkmuster wieder und auch die von Angehörigen und Freunden. Da hat wohl manch eine/r noch ein unbewältigtes Geschwisterproblem. Anderen wiederum kann man zu den wohlgesonnenen und hilfsbereiten Brüdern und Schwestern nur gratulieren – und hoffen, dass sie das, was sie haben, auch zu schätzen wissen.

Dadurch, dass die Autorin die Kapitel an ihrer eigenen Lebens- und Familiengeschichte aufhängt, liest sich das sachkundige Buch nicht wissenschaftlich-trocken, sondern persönlich wie eine Autobiographie. Man leidet mit, wenn sie von Geschwisterbeziehungen berichtet, die von Kindheitserlebnissen belastet und von Missverständnissen geprägt waren. Und auch manche Fallbeispiele aus dem persönlichen Umfeld der Autorin beschäftigen einen nachhaltig. Was ist wohl geworden aus Leo und Theo und aus Carolines Stieftochter Mia? Ob sie die geschilderten Probleme bewältigt haben? Es ist selten, dass einem Beispiele aus einem Sachbuch so nachgehen. Aber das ist ja auch kein Sachbuch wie alle anderen. Durch den persönlichen Ansatz erreicht es den Leser emotional. Und während man die Geschichte von Susann und ihren Geschwistern verfolgt, lernt man was fürs Leben. Schmunzeln muss man trotz des ernsten Themas auch manchmal: „Die Pubertät ist ein Prozess, kein Ereignis. Sie schleicht sich ein und hört irgendwann wieder auf. Jedenfalls meistens.“. (Seite 220)

Die Autorin
Susann Sitzler, geboren 1970 in Basel, lebt als freie Journalistin und Autorin seit 1993 in Berlin. Sie macht Reportagen, Porträts und Rundfunkfeatures etwa für »Die Zeit«, »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung«, »Merian« und »Deutschlandradio Kultur« und veröffentlichte zahlreiche Bücher. Aufgewachsen ist sie als Halb-, Stief- und leibliche Schwester – und als Einzelkind.

Rezensent: Edith Nebel
EdithNebel@aol.com
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