Simone Dorra, Ingrid Zellner: Der Strom des Lebens. Band VII der Kashmir-Saga (Abschlussband), Hamburg 2022, Tredition, ISBN 978-3-347-62728-4, Softcover, 572 Seiten, Format: 17 x 3,9 x 24 cm, Buch: EUR 20,99, Kindle: EUR 5,99.
„Sameera schloss die Augen ‚Der Fluss setzt seinen Weg zum Meer fort, ob das Rad der Mühle gebrochen ist oder nicht.‘ Sie waren alle zerbrochen worden, so wie das Mühlrad in den Zeilen von Khalil Gibran. Sie hatten alle gelitten und getrauert, sie waren gestürzt und wieder aufgestanden und manche ihrer Liebsten hatten sie zurücklassen müssen, ohne sie jemals zu vergessen. Doch sie setzten ihren Weg fort, so unweigerlich wie der Fluss.“
(Seite 544)
Lange habe ich mich nicht herangetraut an den siebten und letzten Band der Kashmir-Saga. Seit 2017 verfolge ich die Reihe und habe dabei die vier Hauptpersonen durch Jahrzehnte ihres Lebens begleitet. Rechnet man die Rückblicke mit, haben wir treuen Leserinnen Vikram Sandeep aus Kashmir und dessen eurasische Frau Sameera sowie deren enge Freunde Raja Sharma aus Maharashtra und dessen Jugendliebe Sita schon als blutjunge Männer und Frauen kennengelernt. Jetzt sind sie in ihren Siebzigern bzw. Achtzigern und haben ihr Lebenswerk in jüngere Hände gelegt.
Helden im Ruhestand?
Ihre Feinde aus ferner Vergangenheit dürften inzwischen gestorben und begraben sein oder doch zumindest des Kämpfens müde. Man muss nicht mehr ständig damit rechnen, dass irgendwelche rachedurstigen Gestalten aus dem Hinterhalt springen und dem ehemaligen Geheimdienstmann Vikram oder dem Ex-Knacki Raja für erlittenes oder eingebildetes Unrecht ans Leder wollen. Das klingt nach einem entspannten Ruhestand im Kreise der (Zieh-)Kinder, Enkel und Urenkel.
Die Verantwortung für das Waisenhaus Dar-as-Salam, das Vikram Sandeep einst gegründet hat, um ein bisschen was von dem gut zu machen, was er in seiner aktiven Militärzeit angerichtet hat, trägt jetzt Yussuf Sadaq. Der kennt das Haus und dessen Philosophie, weil er selbst im Dar-as-Salam aufgewachsen ist. Wir erinnern uns: der Kleine, der immer die wildesten Streiche ausgeheckt hat.
Raja Sharma lebt seit dem frühen Unfalltod seiner Frau Sita ebenfalls im Dar-as-Salam und hat seine turbulente Großfamilie in Shivapur/Maharashtra zurückgelassen. Der neue Heimleiter kann also auf das Wissen und die Erfahrung von gleich drei Dar-as-Salam-Veteran:innen zurückgreifen: Vikram, Sameera und Raja.
Eine folgenreiche Dummheit
Wäre Vikrams Sohn Mohan nicht als Vierzehnjähriger mit einem geklauten Auto erwischt worden, hätten die Sandeeps und die Sharmas wahrscheinlich nicht mehr viel mit Militär, Polizei, Politik und Terrorismus zu tun gehabt. Aber Major Veer Shinde von der indischen Armee paukt den Teenager heraus, und dessen Vater, der alte Haudegen, schuldet ihm nun was. Er muss den Major bei einer Geheimoperation unterstützen – was fatale Folgen hat. Es ist eben Kashmir – man kommt dort nicht zur Ruhe.
In diesem Zusammenhang erfahren wir auch, was aus dem ehemaligen Heimzögling Sinan Dasouli geworden ist, Salmas unglückseligem Bruder, der sich als Teenager radikalisiert hat und in den Untergrund gegangen ist. Seither hat niemand mehr von ihm gehört. Mit dem Verlust ihres Bruders kann Salma ebenso wenig abschließen wie mit der Erinnerung daran, dass sie damals von einer Gruppe maskierter Männer überfallen worden ist. Wer dafür verantwortlich war und was das mit Sinans Verschwinden zu tun hat, entdeckt sie erst jetzt, nach vielen Jahren. Und die Geschichte ist noch immer nicht vorbei!
Dramatische Rettungsaktion
Haben wir in Band VI nicht alle gedacht, dass die filmreife Romanze zwischen Heimbewohnerin Firouze und ihrem Aftab zu schön ist um wahr zu sein? Nun … wir hatten recht! Als sie nach ihrer Hochzeit nicht mehr für die Familie zu erreichen ist, forscht einer ihrer Ziehbrüder nach – und erfährt beunruhigende Dinge über ihre Schwiegerfamilie! Das führt zu einer spektakulären Rettungsaktion. Die Helden sind zwar älter geworden, aber das Kämpfen haben sie nicht verlernt. Und auch als Rentnertruppe sind sie alles andere als zimperlich. Ihre „friends in high places“ werden wieder einiges unter den Teppich kehren müssen. Nein, Vikram und seine Freunde sind keine Engel, auch wenn sie für die Waisenkinder Kashmirs viel Gutes tun.
Veränderungen
Auch im Dar-as-Salam selbst ist nicht alles eitel Sonnenschein. Wer dort aufgewachsen ist, zählt zur Familie, auch wenn er oder sie eigene Wege geht. Professorin Maryam Khaleed lebt seit fast 20 Jahren im Ausland und kann nicht damit umgehen, dass sich „zuhause“ auch mal was verändert. Ihr Leben ist unstet genug, da soll wenigstens im Dar-as-Salam alles beim Alten bleiben. Tut es aber nicht. Auch nicht ihr zu Gefallen. Und so rauscht sie empört und beleidigt ab, kaum dass sie zu einer Familienfeier angereist ist, und verweigert fortan jeglichen Kontakt zur Familie. Das bricht ihren Zieheltern und -geschwistern das Herz.
Mohan Sandeep, inzwischen erwachsen und Jura-Student, lässt sich solche Kindereien nicht bieten und reist unangemeldet nach Cambridge, Massachusetts, um mit seiner Ziehschwester mal Klartext zu reden. Dieser ungebetene Verwandtenbesuch hat weitreichende Folgen, nicht nur für Maryam.
Kleine und große Dramen
So gibt es viele kleine und große Dramen rund um die Bewohner und Freunde des Dar-as-Salam. Von ein paar unserer liebgewonnenen Romanhelden müssen wir uns für immer verabschieden. Da muss man manchmal ganz schön schlucken. Es ist hier fast so wie bei GAME OF THRONES: Die Autorinnen haben keine Hemmungen, ihre Lieblinge sterben zu lassen, wenn es dramaturgisch notwendig ist. Es gibt aber auch herzerwärmende Liebesgeschichten, einige Hochzeiten, selbst über nationale, religiöse und kulturelle Grenzen hinweg, und jede Menge Nachwuchs. Wie das Leben so spielt.
Ich habe schon vor Jahren aufgegeben, den Überblick über die unaufhörlich wachsenden Großfamilien behalten zu wollen. Da rettet mich auch kein Personenverzeichnis. Dass die Ziehkinder der Sandeeps und die Nachkommen der Rajas auch noch untereinander heiraten, macht die Sache nicht übersichtlicher. Egal! Hauptsache, die Autorinnen haben ihr Romanpersonal im Griff. Beim Lesen stelle ich mir immer vor, dass sie einen weit verzweigten Stammbaum auf ihren Rechnern haben und dort bei Bedarf einen Ehepartner für eine Figur herunterpflücken: ‚Ein Sohn/eine Tochter von A? Nein, zu alt. Aus der Familie B? Hm, falsche Religion. Da müsste einer konvertieren. Jemand von der Familie C? Auch nicht. Die wohnen zu weit weg. Wie sollte das Paar sich kennenlernen?‘
Alles dahin?
Irgendwann hat dann jeder Topf, der einen Deckel haben wollte, auch einen gefunden, und der Leser denkt, jetzt kann eigentlich nicht mehr viel schiefgehen. Aber, hey, das ist Kashmir! Da ist immer irgendwas! Das Schicksal holt noch einmal zu einem gewaltigen Schlag aus und alles, wofür Sandeeps und Sharmas gelebt und gearbeitet haben, scheint für immer verloren … Das wäre allerdings ein Jammer! Der Gedanke, der hinter dem Dar-as-Salam steht, hätte wirklich das Zeug dazu, Verständnis füreinander zu wecken und zum friedlichen Zusammenleben beizutragen:
„Vikram baba hat damals ausschließlich muslimische Waisenkinder aufgenommen, weil er als Hindu ein Zeichen setzen wollte. Aber ich bin Muslim … und es gibt auch viele Hindu-Waisen in Kashmir, die Hilfe brauchen. Ich möchte ab sofort Kinder aller Glaubensrichtungen bei mir aufnehmen – damit sie gemeinsam aufwachsen und dabei auch lernen, die Religionen der jeweils anderen zu achten.
(Seite 538)
Eine Idee mit Zukunft
Das Leben geht weiter. Solange wir atmen, hoffen wir. Und so ist zwar die Kashmir-Saga zu Ende aber die Idee, die hinter dem Dar-as-Salam stand, wird mit etwas Glück weiterleben und hoffentlich die gewünschten Früchte tragen.
Die Reihe hat mit diesem Band einen schönen und würdigen Abschluss gefunden. Trotzdem werde ich die eigenwilligen Helden und ihre trubeligen Großfamilien vermissen. So ist das immer, wenn einem Serienfiguren über die Jahre so richtig ans Herz gewachsen sind.
Die Autorinnen
Simone Dorra wurde 1963 in Wuppertal geboren, machte eine Ausbildung zur Buchhändlerin und arbeitete mehrere Jahre als kirchliche Radio-Redakteurin für den Privatfunk. Sie ist verheiratet, Mutter von drei erwachsenen Kindern und Autorin von sechs Büchern im Silberburg-Verlag Tübingen. Als begeisterter Fan von Indien und Kashmir schrieb sie „Das Haus des Friedens“ als Soloprojekt und setzte es gemeinsam mit ihrer Co-Autorin Ingrid Zellner zu einer Serie in insgesamt sieben Bänden fort, die seit 2017 bis zum Frühjahr 2022 bei tredition erscheinen. www.simonedorra.de
Ingrid Zellner, geboren 1962 in Dachau. Studium der Theaterwissenschaft, der Neueren deutschen Literatur und der Geschichte in München. 1988 Magisterexamen. Dramaturgin 1990 bis 1994 am Stadttheater Hildesheim und 1996 bis 2008 an der Bayerischen Staatsoper München. Freiberufliche Tätigkeit u.a. als Übersetzerin (Schwedisch) und Autorin sowie als Schauspielerin und Regisseurin. Bevorzugte Reiseziele: Skandinavien, die Arktis und Indien. www.ingrid-zellner.de, www.kashmirsaga.de
Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
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