Viola Eigenbrodt: Das phantastische Antiquariat, Leonberg 2023, Independently published, ISBN 979-8-85018591-6, Softcover, 245 Seiten, Format: 12,7 x 1,57 x 20,32 cm, Buch: EUR 14,98, Kindle: EUR 3,99.
Vorab, damit alle gleich wissen, was sie hier erwartet: DAS PHANTASTISCHE ANTIQUARIAT ist eine Kurzgeschichtensammlung. Die Geschichten hängen zum Teil zusammen und haben einen unterschiedlich starken Bezug zur Hauptfigur der Rahmenhandlung.
Darum geht’s: Seit 40 Jahren schon betreibt Christine Hoffmann in der Heidelberger Altstadt ihr Antiquariat. Inzwischen ist sie über siebzig und weiß, dass sie sich Gedanken darüber machen sollte, wie’s mit dem Geschäft weitergeht, wenn ihr die Arbeit mal zu viel wird. Doch noch ist sie fit, liebt ihre Tätigkeit und sieht keinen Grund zum Aufhören.
Seit zehn Jahren ist sie verwitwet. Kinder hat sie keine, aber eine enge Bindung an ihre Verwandtschaft in Berlin, vor allem an ihre beiden Nichten.
Wenn Christine eine neue Bücherlieferung bekommt – und manchmal stellen ihr Leute einfach Kisten mit Büchern vor die Tür – sieht sie jeden einzelnen Band gewissenhaft durch und prüft erst einmal, ob er vom Inhalt und vom Zustand her für den Verkauf geeignet ist. Immer wieder findet sie in den Büchern vergessene Lesezeichen: Briefe, Eintrittskarten, persönliche Notizen und auch schon mal ein abgelöstes Flaschenetikett.
Lesezeichen inspirieren zu Geschichten
Diese Fundstücke regen Christines Phantasie an und so entstehen die Kurzgeschichten in diesem Band. Sie ranken sich überwiegend um diese Lesezeichen. Manchmal reicht aber auch ein Stichwort und ein Abenteuer voller Magie und Überraschungen nimmt Gestalt an.
Erst habe ich gedacht, Christine denkt sich die Geschichten aktiv aus. Aber nachdem sie verschiedene Personen aus ihren Tagträumen im Internet sucht und auch findet, muss es diese Ereignisse tatsächlich gegeben haben. Das Leben hat die Geschichten also schon geschrieben. Sie finden jetzt nur auf wundersame Weise den Weg in Christines Kopf. So wie diese hier:
Das Etikett einer Flasche Himbeergeist führt Christine – und uns Leser:innen – in die 1970er-Jahre zum Münchner Feinkosthändler Peter Schaller und seiner mondänen Frau Irina. Die beiden wünschen sich ein Kind, aber es will einfach nicht klappen. Im Italienurlaub treffen sie auf einen Landwirt, der seinen Himbeeren diesbezüglich wahre Wunder zuschreibt. Und auch das Madonnenbildnis im Dom von Urbino, für das angeblich eine seiner Vorfahrinnen Modell gestanden hat, soll helfen. Irina ist skeptisch. Aber eine Handvoll Himbeeren und ein Gebet können ja nicht schaden ….
Der Familie von Peter und Irina Schaller werden wir im Buch noch öfter begegnen – auch ihren Vorfahren. Der Weg führt uns quer durch Europa und durch die Jahrhunderte. Dabei kommen wir dem Geheimnis eines uralten Familien-Erbstücks auf die Spur. Zumindest teilweise …
Zufall, Schicksal oder Magie?
Ein Brief als Lesezeichen führt uns in die USA, an die Howard University in Washington. Die afroamerikanische Geschichtsstudentin Angela Hopkins ist auf der Suche nach einem besonderen Thema für ihre Abschlussarbeit. Es soll um eine schwarze Forscherin oder Künstlerin gehen, die etwas Wichtiges geleistet hat und von der Öffentlichkeit vergessen wurde. Ein alter Museumswärter macht sie auf das fast vergessene Werk der Malerin Julia Bassett aufmerksam – und das Leben der Studentin gerät aus den Fugen.
In einem Bilderbuch, das als Geschenk für ihren Großneffen in Berlin gedacht ist, findet Christine Computerausdrucke mit zwei skurrilen Märchen, sorgsam versteckt zwischen Cover und Schutzumschlag. Wer sie für wen geschrieben hat, ist nicht mehr nachzuvollziehen. Aber es geschah mit viel Phantasie, Humor und großer Freude am Fabulieren.
Der Engel aus Berlin
Bei ihrem Verwandtenbesuch lernt Antiquarin Christine einen faszinierenden Mann kennen, der ähnliche Interessen hat wie sie: den Antiquitätenhändler Bernd Engel. Er gibt ihr seine Visitenkarte, sie selbst hält sich bedeckt. Denn auch, wenn sie ständig an ihn denken muss: Sie hatte ihre große Liebe. Und sich auf jemanden Neues einzulassen, würde sich wie Verrat an ihrem verstorbenen Mann anfühlen. Ihre Nichten verstehen das nicht, aber die Tante ist eine kluge, erwachsene Frau und trifft ihre eigenen Entscheidungen.
Geschichten von Liebe, Freundschaft und Familie
Wegen einer Skizze und ein paar Randnotizen in einem Buch über die Stadt Schwetzingen treffen wir auf den jungen Claudio, der alles tut, um sich von seiner musikalisch-akademischen Familie zu distanzieren. Ausgerechnet er kommt einem Skandal rund um die Familie Mozart auf die Spur. Hatten dabei übernatürliche Mächte ihre Hände im Spiel oder dreht der arme Kerl langsam durch? Nur gut, dass wenigstens seine unkonventionelle Tante Apollonia zu ihn hält!
Sehr schräg ist die Geschichte vom Erdbeerfeld, das im Lauf von Jahrzehnten einen erstaunlichen Einfluss auf die Karriere mehrerer Musiker hat. Eine alte Konzertkarte führt zu dieser Story, die in einem späteren Kapitel noch eine Fortsetzung erfährt.
Ein Foto beschert uns die außergewöhnliche Liebesgeschichte der Fabrikantentochter Dorothea und des Saudi-Arabers Sani. Auch wenn sich deren Leben in der Welt der Reichen und Schönen abspielt und Christine weit davon entfernt ist, findet sie sich in diesen Ereignissen wieder.
Nicht alles hat unmittelbar mit Christines Lebenssituation zu tun. Die Geschichte der keltischen Druidin erzählt von der sich verändernden Rolle der Frau im Lauf der Jahrtausende. – In der Weihnachtsgeschichte geht’s vordergründig um Bauernkinder und deren sehnlichstem Wunsch – aber eigentlich um Freundschaft und Zusammenhalt.
Die Story vom Dating-Flop: eine Warnung?
Nichte Bernadette erzählt ihrer Tante Christine vom haarsträubenden Dating-Flop einer Bekannten. Das wird doch nicht als Warnung gedacht sein, oder? Denn natürlich hat sich die Berliner Sippe inzwischen schlau gemacht, was den Antiquitätenhändler Bernd Engel angeht, mit dem die Tante in Kontakt steht. Auch über seine Familie gibt’s hochinteressante Geschichten zu erzählen …
Die Rahmenhandlung habe ich gespannt verfolgt, denn schließlich könnte dadurch Christine Hoffmanns komplettes Leben auf den Kopf gestellt werden. Wie entwickelt sich das? Wie wird sie sich entscheiden? Und haben wir Leser:innen dabei ein gutes Gefühl?
Die Kurzgeschichten, die sich aus Christines Beschäftigung mit den vergessenen Lesezeichen ergeben, bilden eine abwechslungsreiche Mischung: es gibt realistisch-bodenständige Beiträge genauso wie solche mit magisch-phantastischen Elementen. Manche sind lustig und skurril, andere ernst und dramatisch. Einige haben einen erkennbaren Bezug zur Rahmenhandlung, andere sind einfach erzählenswerte Zufallsfunde.
Sollte man als Leser:in hier neben seinen absoluten Lieblingsgeschichten auch eine finden, die einem spontan etwas weniger liegt: Das liegt in der Natur eines „gemixten“ Angebots. Das ist bei einer unterhaltsamen Kurzgeschichtensammlung genau wie bei einer leckeren Keks- oder Pralinenmischung. 😉
Manche Figur geht einem nicht mehr aus dem Kopf
Manch eine Person bleibt einem hartnäckig im Gedächtnis. Ob Angela mit dem Bruch in ihrem Leben glücklich geworden ist? War das der richtige Weg für sie? Wohin ist eigentlich Fred D. verschwunden? War er überhaupt real? – Die Jet-Set-Frau Dorothea tat mir in der Seele leid. Geld allein macht wohl wirklich nicht glücklich. Und das Paar in der fünften Geschichte kann ein Geheimnis einfach so ignorieren und sein Leben leben? Auf Dauer? Cool! Das ist wahrscheinlich das Beste, was die zwei in ihrer Situation tun können, aber ich brächte das nicht fertig.
Ja, und wenn man als Leser:in anfängt, über die Figuren in einem Buch so nachzudenken als seien es reale Menschen, dann ist es der Autorin gelungen, sie zum „Leben“ zu erwecken.
Die Autorin
Viola Eigenbrodt ist eigentlich Archäologin, aber seit vielen Jahren als Journalistin, Dozentin für Kreatives Schreiben und Schriftstellerin tätig. Mit ihrer Familie hat sie einige Jahre in Meran gelebt und gearbeitet. Seit 2012 ist sie wieder in Deutschland und wohnt jetzt mit ihrem Mann in der Nähe von Stuttgart.
Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
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