Nicklas Brendborg: QUALLEN ALTERN RÜCKWÄRTS. Was wir von der Natur über ein langes Leben lernen können. OT: Gopler ældes baglæns. Videnskabens svar på et længere liv, aus dem Dänischen von Justus Carl, Köln 2022, Eichborn/Bastei Lübbe, ISBN 978-3-8479-0104-4, Hardcover mit Schutzumschlag, 302 Seiten, Format: 14,6 x 3 x 22 cm, Buch: EUR 22,00, Kindle: EUR 14,99. Auch als Hörbuch lieferbar.
„Die Bäume in Biosphere 2 […] schossen schnell in die Höhe. Doch noch bevor das Experiment überhaupt zu Ende war, brachen [sie] unter ihrem eigenen Gewicht zusammen. Was hatte ihnen gefehlt? Weder Nährstoffe noch Pflege oder Fürsorge. Im Gegenteil: Ihnen fehlte Stress. Genauer gesagt fehlte den Bäumen in Biosphere 2 der Stress, den Bäume normalerweise durch den Wind erfahren.“ (Seite 92)
Jung bleiben ist Arbeit!
Es zeigt sich schon recht früh im Buch: Wenn man von der Natur etwas für ein langes und gesundes Menschenleben lernen will, wird das recht ungemütlich. Da ist nichts mit Schonen und Ausruhen, da muss man was tun. Bequeme Abkürzungen sind ausgesprochen selten. Was gestern noch als Wundermittel gepriesen wurde, steht heute oft wegen unerwünschter Nebenwirkungen in der Kritik.
Inwieweit sind Forschungsergebnisse aus dem Tierreich, insbesondere unter Laborbedingungen, überhaupt auf uns Menschen übertragbar? Was bei, sagen wir mal, Mäusen wirkt, muss beim Menschen noch lange nicht funktionieren. Dieser Frage wird hier nachgegangen.
Altern im Tierreich
Es kann aber auf keinen Fall schaden, mal zu schauen, warum z.B. Grönlandhaie 400 Jahre alt (oder sogar noch älter!) werden und wieso die mausgroßen Nacktmulle praktisch gegen Krebs immun sind. Aus welchem Grund werden diese unansehnlichen kleinen Nager um die 30 Jahre alt, während ihren Verwandten, den Mäusen, eine Lebensdauer von allenfalls zwei Jahren beschieden ist? Und dann gibt’s dann noch die Quallenart Turritopsis. Die kann sich in Krisenzeiten (Hunger, Temperaturänderung im Wasser) in ihr Polypenstadium zurückentwickeln. Das ist so, als würde ein Schmetterling wieder zur Raupe werden. Verbessern sich ihre Lebensbedingungen wieder, wächst die Qualle von Neuem heran. Und der Hit ist: Dieses Kunststück kann sie beliebig oft wiederholen. Wie macht sie das?
Was ist dran an der Beobachtung, dass große Tiere in der Regel länger leben als kleine, wohingegen innerhalb einer Spezies die kleineren Exemplare älter werden als die großen? Stimmt das auch beim Homo sapiens? Die besonders langlebigen Menschen in den so genannten „Blauen Zonen“ – den Regionen der Welt, in denen die Leute viel länger leben als der Durchschnitt – sind anscheinend auch auffallend klein. Welche Rolle die Gene dabei spielen, wird beschrieben, aber Genetik ist von jeher meine Schwachstelle: Ich hab’s nicht verstanden. 🙂
Was wirkt und was nicht?
Wir entdecken, wie man das biologische Alter bestimmt. Ohne diesen Wert könnte man ja keine Aussage darüber treffen, ob irgendwelche Mittel und Methoden wirken. Wir erfahren, was es mit den freien Radikalen auf sich hat und ob es was bringt, Antioxidantien als Nahrungsergänzungsmittel einzunehmen. Wie wichtig es ist, die „Zellmüllabfuhr“ in Schwung zu halten, die den molekularen Abfall und die alten Bestandteile der Zellen entsorgt, und wie man das macht, erklärt uns der Autor ebenfalls. Wichtige Stichwörter sind hier „Autophagie“ und Ernährung.
Was uns nicht umbringt …
Wir lernen, was sich hinter dem Begriff „Hormesis“ verbirgt: das Phänomen nämlich, dass Herausforderungen, Stress oder Schäden uns stärker machen können. Anscheinend tut’s uns gut, Widerständen ausgesetzt zu sein. Der Körper „kapiert“ die Botschaft. Er rüstet sich, baut Kräfte auf und wird widerstandsfähiger. Hormetische Stoffe finden sich z.B. in pflanzlicher Nahrung. Was den Pflanzen zur Selbstverteidigung gegen Fressfeinde dient, ist oft auch für uns Menschen leicht giftig. – Hitze- und Kälteschocks wie Sauna oder Eisbaden, harmlose Bestrahlungen, wie man sie in den Bergen erfährt oder die körperlichen Belastungen des Sports fallen ebenso in die Rubrik „Hormesis“. Kurz und gut: Was uns nicht umbringt, macht uns stärker. Das ist völlig einleuchtend, wenn man das liest. So hatte ich das noch nie gesehen. Auf einmal ist auch sonnenklar, warum Trainingspausen so wichtig sind.
Kann man mit Stammzellen die biologische Uhr der Zellen rückwärtsdrehen? Und wenn ja, welche Risiken geht man damit ein? Wie halten wir unsere Mitochondrien, die Kraftwerke der Zellen, in Topform? Warum ist es keine gute Idee, Wachstumshormone zum Muskelaufbau oder als Anti-Aging-Mittel einzunehmen? Unter welchen Bedingungen wirkt Rapamycin – ein Stoff, der auf den Osterinseln entdeckt wurde – lebensverlängernd? Warum ist Blutspenden gesund? Wie beeinflussen Viren das Älterwerden? Die Liste der Fragen und Antworten ist lang.
Vorwissen erforderlich
Ich gestehe, dass sich ein paar Beiträge im Kapitel „Entdeckungen der Forschung“ meinem Verständnis komplett entziehen. Ich bin nur eine interessierte Laiin mit 40+ Jahre altem Biologie-Schulwissen und ein paar angelesenen Zusatzkenntnissen. Welche Stoffe in den Zellen was genau hemmen oder auslösen und was das im Einzelnen bewirkt, übersteigt meinen Horizont. Dass man für ein Sachbuch mehr Vorwissen bräuchte als man als durchschnittlich schlauer und gebildeter Leser tatsächlich hat, sagen sie einem vorher nie! Und so ist das Buch informativ, vielfältig und unterhaltsam, aber ich kann das dargebotene Wissen nicht im vollen Umfang nutzen, weil mir die Voraussetzungen dafür fehlen.
Was genau ist gesunde Ernährung?
Im Kapitel „Gute Ratschläge“ konnte ich dann wieder besser folgen. Da geht’s unter anderem um die Vorzüge des (Intervall-)Fastens und darum, wie das, was wir essen, unser Altern beeinflusst. Als Laie hat man ja das Gefühl, dass jede Woche neue Theorien, Erkenntnisse und Ernährungsvorschriften auf den Markt kommen und alles, was man zu wissen glaubt, rasend schnell veraltet – wenn es nicht sowieso nur unwissenschaftlicher Mumpitz war.
Vom Grundlagenwissen abgesehen scheint gesunde Ernährung eine recht individuelle Angelegenheit zu sein. „Was für Sie gesund ist, muss es für mich noch lange nicht sein“, schreibt der Autor. (Seite 245). Nur sind wir leider noch nicht so weit, ohne viel Aufwand jedem interessierten Menschen seine persönliche Idealernährung maßzuschneidern.
Was lernen wir jetzt aus dieser Vielzahl von Informationen, die uns das Buch bietet?
- Wundermittel gibt’s nicht. Oder wir haben sie noch nicht gefunden.
- Was uns nicht umbringt, macht uns stärker.
- Was gesund ist, ist, überspitzt gesagt, das, was uns schon die Altvorderen empfohlen haben: frische Luft und Bewegung, viele pflanzliche und wenige verarbeitete Lebensmittel verzehren, Hände waschen, Zähne putzen, ggf. Blut spenden und Intervallfasten.
Das Thema ist hochinteressant und wichtig, und es wundert mich nicht, dass das Buch ein Bestseller ist. Ich hab’s mir nur „volksnäher“ vorgestellt und wüsste nun gerne, ob’s alle, die es sich gekauft haben, auch wirklich vollumfänglich verstanden haben. Bin ich etwa die einzige Leserin, der die Ausführungen des Autors streckenweise zu hoch waren? Oder bin ich nur wieder der einzige Depp, der das offen zugibt?
Der Autor
Der 26jährige Nicklas Brendborg ist Postdoktorand für Molekularbiologie an der Universität Kopenhagen. Er ist Absolvent des Novo Nordisk International Talent Program und des Novo Scholarship Program. Sein Buch »Quallen altern rückwärts« stand auf Platz 1 der dänischen Bestsellerliste. Der große Erfolg des Buches in Dänemark sorgte für ein weltweites Echo: Lizenzen wurden in über 20 Länder verkauft – etwa zeitgleich mit der deutschen Ausgabe erscheint der Titel in den USA und in Großbritannien.
Rezensentin: Edith Nebel
E-Mail: EdithNebel@aol.com
www.boxmail.de